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Alltagsgeschichte des Mittelalters

V. 4.4. Die Angst der Geistlichen vor ihrem eigenen Geschlecht

"Genau ein solches Leben erstrebt
der junge Mann, wenn er in einen Orden eintritt,
denn so große Schuhe wird er niemals haben,
noch wird er es jemals verstehen, sich eine
so große Kapuze und eine so weite Mütze zu machen,
daß Natur sich nicht doch in seinem Herzen versteckt:
Dann ist er tot und elend,
wenn ihm die Freiheit fehlt,
falls er nicht aus der Not
durch große Demut eine Tugend macht,
doch Natur kann nicht lügen,
die ihn die Freiheit fühlen läßt;
denn Horaz, der wohl weiß,
was so etwas bedeutet, sagt sogar:
Wer eine Heugabel nehmen wollte,
um sich der Natur zu erwehren,
und sie aus sich heraustriebe,
sie kehrte doch zurück, ich weiß es wohl.
Stets wird Natur zurückkommen,
wegen eines Gewands wird sie niemals ausbleiben.
Was soll das? Jedes Geschöpf
will zu seiner Natur zurückkehren;
niemals wird es sie wegen der Macht
von Gewalt oder Gewohnheit verlassen."

(in: Guillaume de Lorris und Jean de Meun: Der Rosenroman, übersetzt von Karl August Ott, II. Bd., München 1978, S. 763 und 765)

Ja, und die Natur machte (und macht) den Geistlichen wirklich schwer zu schaffen. Anstatt sich Gott vollkommen und ganz widmen zu können, mußten (und müssen) sie ständig gegen ihre sexuellen Regungen ankämpfen.

So geißelten sich einige Kirchenmänner und Kirchenfrauen morgens und abends, um sich ihre Lustgefühle regelrecht auszupeitschen. Wer trotzdem zur Masturbation griff und erwischt wurde, mußte in den Laienstand zurück.

Auch die unfreiwillige Pollution wurde bestraft.

In den Bußbüchern wurde dieses "Vergehen" folgendermaßen geahndet:
"Wer einen Samenfluß (freiwillig oder unfreiwillig) hat, und im Traum befleckt wird, soll an jenem Tag fasten, 30 Psalmen singen und bis zum anderen Tage nicht an den Altar treten ... (oder)

Wer gegen seinen Willen eine Pollution erleidet, sei es infolge von Vorstellungen oder eines Naturbedürfnisses, soll 7 Tage Buße tun, 50 Psalmen beten und am Mittwoch und Freitag bis zur Non (ungefähr 15 Uhr) oder Vesper (ungefähr 18 Uhr) fasten." (in: Peter Browe, ebenda, S. 94)

Aus Angst vor diesen unfreiwilligen Pollutionen wurden von den Mönchen besonders vor dem Schlafengehen Stoßgebete gen Himmel gesandt.

Einige Geistliche versuchten ihre sexuellen Regungen zu unterdrücken, indem sie z.B. im Winter eine Zeitlang ins eiskalte Flußwasser stiegen!

So tauchte der hl. Abt Wandregisilus (6./7. Jh.) nach einer nächtlichen Pollution sogleich "voll Schmerz in den Fluß; selbst im Winter sang er mitten im eisigen Wasser die Psalmen und machte die üblichen Kniebeugen bis auf den Grund." (in: Peter Browe, ebenda, S. 90/91)

Einige Kirchenmänner, wie z.B. Origines († 254), griffen zur Selbstkastration, um sich für immer von diesen Versuchungen zu befreien!

Ob das die richtige Lösung war?

Abaelard († 1142), der durch den Onkel seiner Geliebten und dessen Helfershelfern aus Rache entmannt wurde, hatte jedenfalls große Bedenken, ob Gott ihn als Eunuchen überhaupt aufnehmen würde:
"... mich ängstete Gottes Gesetz: nach seinem unerbittlichen Wortlaut sind Eunuchen ein Greuel vor dem Herrn, und das Gesetz verbietet Entmannten jeder Art wie Anrüchigen und Unreinen das Betreten des Tempels, ja es verwirft sogar solche Tiere als Opfer. Las ich nicht im dritten Buch Mose: ‚Du sollst auch dem Herrn kein Zerstoßenes oder Zerriebenes oder Zerrissenes oder das ausgeschnitten ist, opfern‘ und abermals im fünften Buch im dreiundzwanzigsten Kapitel: ‚es soll kein Zerstoßener noch Verschnittener in die Gemeinde des Herrn kommen.‘" (in: Abaelard, ebenda, S. 32)

Viele Kirchenmänner hielten schließlich gerade diesen Kampf mit ihrem eigenen Geschlecht als besonderen Dienst an Gott. So schrieb Abaelard z.B. an seine frühere Geliebte und derzeitige Äbtissin seines Klosters Paraklet, Heloisa, die sehr gegen ihre sexuellen Wünsche anzukämpfen hatte, folgendes:
"Dich hat unser Gott auserlesen, die Märtyrerkrone zu gewinnen: Wieder und immer wieder lockt das Fleisch ein junges, frisches Herz, wie Du es hast, und legt ihm Leiden zu tragen auf, Leiden ohne Zahl. Ich weiß, es ekelt Dich geradezu an, so etwas zu hören, ich weiß, es soll und soll vor Dir nicht ausgesprochen werden – aber so spricht, daß aller Ohren es hören, so spricht, der da ist die Wahrheit: Die Krone winkt dem, der da aushält im Kampf. ‚Er wird doch nicht gekrönt, er kämpft denn recht.‘ Ich habe auf diesem Kampfplatz nichts mehr zu kämpfen; so ist mir auch keine Ehrenkrone vorbehalten; der kann ja nicht mehr kämpfen, dem der Stachel der Sinnlichkeit ausgerissen ist." (in: Abaelard, ebenda, S. 142)

Die Kirche ließ ihre Leute mit ihren sexuellen Problemen natürlich nicht allein. Mit Verboten und Ratschlägen versuchte sie zu helfen.

So wurden schon im frühen Mittelalter in den Klöstern gegenseitige Zellenbesuche untersagt. Und in den Gemeinschaftsschlafräumen mußte die ganze Nacht über Licht brennen, ohne daß jemals der Grund für diese Wachsverschwendung genannt wurde.

Zudem riet sie ihren Männern, Begegnungen mit Frauen zu vermeiden, und am besten in jedem Weib gleich die Versuchung des Teufels zu sehen. So machten die Mönche und die Kleriker schließlich die Frauen für ihre sexuellen Qualen verantwortlich und wurden nicht müde, sie deswegen zu hassen. Vielleicht ist das einer der Hauptgründe für die schlechte Position der Frauen in der katholischen Kirche!

Die Geistlichen jedenfalls gaben nicht auf, die Frauen zu erniedrigen und sie als dumm, geschwätzig, untreu, geil und häßlich darzustellen:
"Die Schönheit des Körpers (der Frau) besteht allein in der Haut. Denn wenn die Menschen sähen, was unter der Haut ist, wenn sie so, wie man den Luchs in Böotien sagt, das Inwendige sehen könnten, würden sie sich vor dem Anblick der Frauen ekeln. Ihre Anmut besteht aus Schleim und Blut, aus Feuchtigkeit und Galle. Wenn jemand überdenkt, was in den Nasenlöchern, was in der Kehle und was im Bauch alles verborgen ist, dann wird er stets Unrat finden. Und wenn wir nicht einmal mit den Fingerspitzen Schleim und Dreck anrühren können, wie können wir dann begehren, den Dreckbeutel selbst zu umarmen?" (in: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1975, S. 194)

Wie groß schließlich die Angst vor Frauen wurde, zeigt deutlich folgende Geschichte, die über den heiligen Paulus berichtet:
"Der heilige Paulus floh in die Wüste angesichts der vielfältigen Foltern, mit denen damals gegen die Christen vorgegangen wurde. So wurden um diese Zeit zwei junge Männer christlichen Glaubens festgenommen: den einen bestrich man den ganzen Körper mit Honig, um ihn in der Sonnenglut den Stichen von Mücken, Hornissen und Wespen auszusetzen und dadurch zu Tode zu bringen. Den anderen legte man auf ein weiches Bett, das an einem Ort von größter Lieblichkeit aufgestellt worden war: da waren mild wehende Lüfte und rauschende Bäche, die Vögel sangen und die Blumen dufteten; er aber wurde mit blütendurchwirkten Stricken so fest gebunden, daß er weder Hände noch Füße zu rühren vermochte.

Ein Mädchen war bei ihm, wunderschön und schamlos; und schamlos verfuhr sie denn auch mit dem von Gottesliebe erfüllten Jüngling. Doch sobald der die widervernünftigen Regungen seines Fleisches spürte, biß er sich, da er sonst keine Waffe besaß, mit der er sich dem Feind hätte entreißen können, die eigene Zunge mit seinen Zähnen ab und spie sie der Schamlosen ins Gesicht; so vertrieb er die Versuchung durch den Schmerz und errang einen ruhmvollen Sieg. Foltern dieser und anderer Christen waren es, die den heiligen Paulus in Schrecken versetzten." (in: Jacobus a Voragine, ebenda, S. 21)

Schließlich wurde Maria zur einzig tolerierten Frau bei den männlichen Geistlichen. Ja, sie wurde (und wird) von den Klerikern, Mönchen, Päpsten und Kirchenvätern geradezu inbrünstig geliebt und begehrt!

Und je mehr die Frauen aus der maskulinen Kirche verdrängt wurden, um so höher stieg Maria auf.

431 erhielt sie den Titel Gottesgebärerin, 451 den Titel Ewig-Jungfrau.

649 wurde die immerwährende Jungfräulichkeit Marias zum Dogma.

Seit 1854 gilt das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis, nach der Maria von ihrer Mutter Anna "unbefleckt", das heißt ohne Erbsünde, empfangen wurde.

1950 wurde sie schließlich zur Königin im Himmel erklärt.

Ja, Maria wurde im Spätmittelalter in den Gemälden und als Skulptur immer hübscher und verführerischer dargestellt. So rief die Traumfrau der Geistlichen bei einigen bedeutenden Kirchenmännern regelrecht "heilige" sexuelle Visionen hervor.

Aber nicht alle Kirchenmänner konnten ihre körperlichen Bedürfnisse durch Anbeten einer nicht lebendigen Idealfigur befriedigen. Und dem habgierigen Papst Johannes XXII. († 1334) fiel nichts Besseres ein, als mit der Schwäche seiner Brüder und Schwestern reichlichst die Papstkasse zu füllen.

So ordnete er nämlich folgendes an: "Wenn ein Priester oder Mönch eine fleischliche Sünde begeht, sei's mit einer Nonne, einer Verwandten oder einer beliebigen Frau ... erhält er nur Absolution, wenn er siebenundsechzig Goldpfund und zwölf Heller bezahlt.

Und wenn er Bestialitäten begeht, kostet es über zweihundert Pfund, aber wenn er sie nur mit Kindern und Tieren begangen hat und nicht mit Frauen, wird das Bußgeld um hundert Pfund verringert.

Und eine Nonne, die es mit vielen Männern getrieben hat, sei's gleichzeitig oder nacheinander, sei's drinnen im Kloster oder auch draußen, und die nun Äbtissin werden will, muß einhundertundeindreißig Goldpfund und fünfzehn Heller zahlen ..." (vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt in: Umberto Ecco, Der Name der Rose, München 1987, S. 377)


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