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Begegnungen mit Zeitgenossen der Renaissance

Giorgione: „Die alte Vettel“ (Die Zeit)

Die alte Vettel
„Die alte Vettel“

Die Zeit und das Altern

„Bei der (Frau) Traurigkeit befand sich eine Frau, die das Alter darstellte. Sie war, nach ihrer Gewohnheit, einen Schritt zurück. Mit Mühe hielt sie sich aufrecht, so alt war sie und in die Kindheit zurückgefallen. Ihre Schönheit war zerstört, häßlich war sie geworden. Ihr Haupt war ergraut und weiß, als stände es in Blüten. Es wäre bestimmt kein großer Schaden, wenn sie sterben würde, und auch kein großes Unglück, denn ihr Körper war ausgetrocknet vor Jahren und zerfallen. Ihr Gesicht war welk geworden, das ehemals hübsch und voll gewesen; jetzt war es mit Falten übersät. Ihre Ohren waren runzelig. Alle Zähne hatte sie verloren, nicht einer war ihr geblieben. Sie war so alt, daß sie keine vier Schritte ohne Stock gehen konnte. Die Zeit, die Tag und Nacht fortschreitet ohne Rast und Ruh, sich von uns trennt und heimlich entflieht, so daß es scheint, sie verweile einen Augenblick, sich indes nie aufhält, nie aufhört, vorwärts zu eilen, so daß wir den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht denken können (denn – wie die Gelehrten sagen, wenn Ihr sie fragt – bevor Ihr einen Augenblick gedacht hättet, wären schon drei verflossen); die Zeit, die sich nicht aufhalten kann, die jeden Tag vergeht, ohne je wiederzukehren wie das Wasser, das zu Tale stürzt und keinen Tropfen zurückfließen läßt; die Zeit, gegen welche nichts besteht, weder Eisen noch irgend ein harter Stoff, und die alles zerstört und zerfrißt; die Zeit, die alle Dinge wandelt, die alles wachsen läßt und nährt und alles verbraucht und verzehrt; die Zeit, die unsere Väter altern ließ, Könige und Kaiser nicht schonte, die auch uns altern läßt, wie es in ihrer Macht liegt, wenn der Tod ihr nicht zuvorkommt: sie hatte diese Frau so schrecklich angefaßt, daß sie nach meiner Meinung sich nicht mehr helfen konnte und zur Kindheit zurückkehrte. In der Tat hatte sie nicht mehr Kraft und Verstand als ein Kind von einem Jahre. Und doch war sie, soviel ich weiß, verständig und unbescholten gewesen in ihrem besten Alter. Aber jetzt war sie unvernünftig und dumm geworden. Sie hatte, wie ich entsinne, ihren Körper mit einem gefütterten Mantel recht gut geschützt, sie mußte sich warm anziehen, sonst würde sie frieren. Alte Leute fühlen die Kälte bald; Ihr wißt wohl, daß es ihre Art ist.“ (Guillaume de Lorris, um 1230, in: Guillaume de Lorris: Der Rosenroman, Berlin 1987, 3. Auflage, S. 32)


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