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24/05/2021

Das Rotkehlchen

Eine Kurzgeschichte, geschrieben von meiner Freundin Dr. Margrit Dornuf

„Pick, Pick!“ Da war es wieder, das kleine Rotkehlchen, und hatte an das Glas des Wintergartenfensters geklopft. Eben hatte ich es noch gesehen, wie es am Rand des kleinen Marmorbrunnens gesessen hatte, den ich aus der Toskana mitgebracht habe. Die Fontäne war vereist und eine kleine Mütze aus frischem Schnee lag darauf. Das Rotkehlchen hatte wie ein kleiner roter Farbtupfer auf dem weißen Rand des unteres Beckens gesessen, die dunkel glänzenden Buchsbäume ein wirkungsvoller Hintergrund. Aber zu hoch, viel zu hoch: ich musste dem Gärtner unbedingt sagen, dass zum Frühjahr hin der Buchsbaum gekürzt werden musste, damit der Wintergarten nicht so stark verschattet wurde. Schön saß es sich hier: Ich hatte meinen Laptop auf dem kleinen weißen Holztisch aufgebaut, der noch die Schrammen vom Umtopfen der Orchideen hatte, und saß in dem alten knarrenden Korbsessel mit den Rosenkissen. Die braunen Fliesen unter meinen Füßen waren gemütlich warm – Fußbodenheizung, hatte eine schöne Stange Geld gekostet – und ich sah in den winterlichen Garten hinaus. Heute Nacht hatte es geschneit und der frische glitzernde Schnee, auf dem Streifen der Morgensonne hin und her huschten, war makellos unberührt. Die Rispen der Gräser am Teich funkelten wie Diamanten, die starre Eisfläche des Wassers war bläulich überhaucht.

Gedankenverloren nippte ich an meiner hauchdünnen japanischen Teetasse mit den orangenen Drachen darauf. Sanfter Darjeeling passte ausgezeichnet zu meiner Stimmung. Die kleine Kanne stand in Reichweite, der Bauch vom Teelicht im Stövchen geheimnisvoll beleuchtet. Mein Blick glitt zufrieden über das kleine Regal mit meinen Romanen – in jedem Raum meines großen Hauses gab es so ein Regal, sogar in der Gästetoilette – und weiter durch das Fenster auf die dünn beschneiten Fliesen der Terrasse zu dem kleinen Rotkehlchen, das stelzfüßig dort herumhopste und nach Futter pickte. Wieder näherte es sich der Fensterscheibe und saß dort, das Gefieder gegen die Kälte drollig gesträubt, und pickte zart und vernehmlich dagegen: es hatte Hunger. Wahrscheinlich waren die Körner in dem kleinen englischen Vogelhäuschen schon wieder zur Neige gegangen. Ich musste dem Gärtner wirklich sagen, dass er es öfter kontrollieren sollte.

In einer halben Stunde würde mir Frau Wiedmann, die gute Seele meines Haushalts, meine Post bringen und ich würde ihr wie jeden Morgen meine Wünsche für das Mittagessen mitteilen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Laptop zu. Mein Verleger wollte in ein paar Tagen den Entwurf meines elften Romans sehen. Ich hatte die Geschichte in den Grundzügen natürlich schon fertig im Kopf, schließlich – so hatte ich auch in meinem letzten Interview betont – war Schriftsteller kein Beruf, sondern eine Berufung, und man schuldete es dem Schreiben geradezu, sich nur darauf zu konzentrieren. Also schob ich die Ärmel meines seidenen Kimonos hoch und legte meine Finger auf die Tastatur meines Laptops wie ein Klaviervirtuose vor dem großen Auftritt, mit den empfindlichen Fingerspitzen die kühlen glatten Tasten liebkosend, schon dem weichen Anschlag entgegen fiebernd.

Ich begann wieder zu schreiben. Leicht glitt der Text auf den Bildschirm, ja, das war gut. „Pick,pick!!“ diesmal lauter und fordernder. Mein Blick glitt zurück zum Fenster--- ---Elvira Koslowsky – mit Ypsilon –, meine Nachbarin von nebenan, klopfte laut gegen das Fenster meiner Paterrewohnung, leicht unwillig öffnete ich das Fenster zum dämmerigen Hof. „Entschuldigen Sie, ich habe Ihre Schreibmaschine gehört. Hätten Sie wohl etwas Reis für mich?“ Verlegen drehte sie ihre schmuddlige Schürze zusammen. Wahrscheinlich hatten die Kinder wieder Hunger, der Alte war nicht nach Hause gekommen und hatte den Lohn von der Schwarzarbeit sofort versoffen. Ich ging in die Ecke, die der Vermieter vornehm eine „Küche“ nannte und suchte im Resopalschrank nach dem verlässlichen Onkel Bean, der immer kurz vor dem Ersten dafür sorgte, dass wir kulinarisch über die Runden kamen. Reis schmeckt mit allen. Notfalls nur mit Sojasoße. Ich reichte Elvira den letzten Beutel: „Hier, nehmen Sie!“ – „Danke!“ sagte sie, ihre Augen waren verweint. „Eine Affenhitze ist das wieder heute! Bestimmt 30 Grad. Wenn wir hier unten im Hof schon kein Licht haben, so sind unsere Wohnungen doch kühler als unterm Dach!“ Ich mochte Elvira, sie war so pragmatisch, außerdem hatte sie mir den Job in dem kleinen Cafe besorgt. „Müssen Sie gleich zur Arbeit? Hat sich inzwischen ein Verleger gemeldet?“

Ich wischte meine verschwitzten Haare aus der Stirn. „Ja, ich muss gleich zur Arbeit. Und, die Verleger melden sich immer!“ Mit der Hand wies ich auf den Stapel der zurückgekommenen Manuskripte. Post von gestern. Post von heute. Nichts als Absagen. Ich winkte Elvira zu und schloss das Fenster.