Wer ist die Mutter von Tutanchamun? - Lösung eines Rätsels
Endlich betreten wir nun auch in der Geisteswissenschaft "Geschichte" das 21. Jahrhundert. Denn nun haben die Naturwissenschaften endlich auch in dieser Disziplin ihren Einzug gehalten und können dafür sorgen, dass Theorien, die jeglicher geschichtlichen Basis entbehren, jedoch bisher durch einflussreiche Autoritäten aufrechterhalten und als sogenannte "Wahrheiten" verkauft wurden, ad acta gelegt werden dürfen. Das beste Beispiel dieser Symbiose zwischen Geistes- und Naturwissenschaft finden wir bei der Suche nach der Mutter des weltberühmten Pharaos Tutanchamun.
Vielleicht hervorgerufen durch die Behauptung der britischen Ägyptologin Joann Fletcher, dass es sich bei einer bestimmten Mumie (Abb. 1), die im wissenschaftlichen Bereich die Bezeichnung "Younger Lady KV 35" (= Jüngere Dame aus dem Grab 35 vom Tal der Könige) erhielt, eindeutig um die berühmte Nofretete handeln würde, wurde unter der Leitung von Zahi Hawass, dem damaligen Generalsekretär der ägyptischen Altertumsverwaltung, in Kairo eine wissenschaftliche Kommission, bestehend aus 16 Mitgliedern, gegründet, die vom September 2007 bis zum Oktober 2009 elf königliche Mumien aus der engeren Verwandtschaft von Tutanchamun und fünf weitere Mumien aus seiner Zeitepoche unter anderem auf ihre DNA hin untersuchte. Ermöglicht wurde dieses Projekt finanziell durch den Discovery Channel. Zu den Experten, die sich mit der DNA der Mumien beschäftigten, gehörten unter anderen die ägyptischen Wissenschaftler Somaia Ismail und Yehia Gad und die Professoren Albert Zink, Mumienforscher von der Europäischen Akademie in Bozen (EURAC), und Carsten Pusch von der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Die DNA-Sequenzierung geschah in zwei gentechnischen Labors in Kairo und zwar im Ägyptischen Museum und an der Universität. Nach zwei Jahren hatten die Forscher für die meisten der 16 Mumien den genetischen Fingerabdruck erstellt. Am 17. Februar 2010 wurden die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Untersuchung im Journal of American Medical Association (JAMA) unter dem Titel "Ancestry and Pathology in King Tutankhamun's Family" publiziert. Falls Sie interessiert sind, den gesamten Artikel kostenfrei zu lesen, dann schauen Sie doch bitte auf folgende Webseite: JAMA Artikel
Um die Mutter des berühmten Pharaos Tutanchamun zu finden, benötigt man eigentlich nur die Kenntnisse der Traditionen, Gebräuche und Sitten der Pharaonen des alten Ägyptens und speziell der 18. Dynastie und gute Stammtafeln. Da es jedoch sehr schwer ist, seine Theorien gegen diejenigen von dominanten Autoritäten durchzusetzen, die sich nicht strikt an die historischen Quellen halten, sondern eigene Vermutungen anstellen, ist die Hilfe der Naturwissenschaft in dieser Disziplin sehr gewünscht.
Bei den Mumien, die bei der Auffindung der Mutter von Tutanchamun besonders wichtig waren, handelt es sich um Yuya (oder Juja) (KV 46), dessen Gattin Tuya (oder Tuja) (KV 46), einer älteren Dame (Elder Lady KV 35), einer jüngeren Dame (Younger Lady KV 35), einem älteren Herrn (KV 35), einem jüngeren Herrn (KV 55) und Tutanchamun selbst. Von drei von diesen sieben Mumien, von Yuya, Tuya und Tutanchamun, kannte man also die Identität. Deren extrahierte DNA konnte somit verwendet werden, um zu bestimmen, in welchem Grad die anderen vier Mumien mit ihnen verwandt waren.
Die Mumie der älteren Dame (Elder Lady KV 35): Die DNA dieser Mumie zeigte, dass es sich bei ihr um eine Tochter von Yuya und Tuya handelte. Ein Blick in die Stammtafel von Yuya und Tuya gibt uns den Namen dieser Tochter preis: Sie hieß Teje. Schon als kleines Mädchen wurde Teje im Alter von einem oder zwei Jahren mit dem ungefähr acht- oder neunjährigen Pharao Amenophis III. vermählt. Vielleicht hatten Yuya und Tuya außer Teje noch weitere Töchter. Aber lassen sie uns nicht herumspekulieren. Mit Sicherheit wissen wir, dass Teje ihre Tochter war. Von Hermann A. Schlögl ist noch eine andere Teje, die er "Teje-Tjj" nennt, um sie von der Königin Teje zu unterscheiden, zu einer Tochter von Yuya und Tuya erklärt worden. Für diese Behauptung gibt es jedoch nicht eine einzige historische Quelle. Laut Schlögl sei diese Teje-Tjj zudem nicht nur eine Tochter von Yuya und Tuya, sondern auch die Mutter von Nofretete gewesen, was auszuschließen ist. Denn Teje-Tjj ist in den historischen Quellen als "Amme von Nofretete" eingegangen. Eine Frau, die ihr Kind stillt und/oder aufzieht, wurde auch im Alten Ägypten Mutter genannt und nicht Amme. Eine Amme ist rein bei Definition eine Frau, die sich um ein Kind kümmert, das NICHT ihr leibliches Kind ist. Eine große Überraschung war das Ergebnis der DNA-Analyse hinsichtlich der älteren Dame jedoch nicht. In der Grabkammer von Tutanchamun hatte man bereits im Jahr 1922 einen kleinen bemalten Miniatursarg entdeckt, in dem sich noch eine kleinere Version eines Sarges befand, der mit einer Inschrift von seiner Großmutter, der Königin Teje, versehen war und der eine Locke von ihrem Haar aufwies. Im Jahr 1975 hatte ein gewisser Dr. James Harris die Erlaubnis erhalten, das Haar der älteren Dame und die Locke in dem Miniatursarg zu untersuchen. Das Ergebnis lautete, dass es sich eindeutig um das gleiche Haar handelte, das heißt, bei der älteren Dame in KV 35 haben wir es mit der Königin Teje zu tun.
Die Mumie des älteren Herrn (KV 35): In seinem Fall standen zwei Kandidaten zur Verfügung: der Pharao Amenophis III. oder Eje (oder Aja), der älteste Bruder der Königin Teje. Auch wenn wir für die Behauptung, es handelt sich bei dem Letzteren um den ältesten Bruder der Königin, keine historische Quelle besitzen, lässt die damalige Tradition keine andere Schlussfolgerung zu, denn Eje nannte nicht nur wie Yuya die mittelägyptische Stadt Achmim seine Heimatstadt, sondern trug als ältester Sohn von Yuya den Namen seines Großvaters väterlicherseits, Eje, und "erbte" auch sämtliche hohen Ämter seines Vaters Yuya. Als der mächtigste Mann nach dem Pharao Amenophis III., seinem Schwiegersohn, hätte Yuya nie zugelassen, dass jemand außerhalb seiner Familie diese hohen Ämter nach ihm übernommen hätte. Die DNA-Untersuchung ergab nun, dass dieser ältere Herr nicht mit Teje, Yuya und Tuya verwandt war. Daher kann es sich bei dieser Mumie nur um den Pharao Amenophis III. handeln.
Die Mumie des jüngeren Herrn (KV 55): Auch in seinem Fall standen zwei Kandidaten zur Verfügung: der Pharao Amenophis IV. (auch Echnaton genannt) und der Pharao Semenchkare. Der Vergleich der DNA von Tutanchamun mit der dieser Mumie löste die Frage nach der Identifikation der Letzteren sogleich. Denn laut der DNA-Ergebnisse haben wir es in ihrem Fall "mit einem Vater und seinem Sohn" zu tun, und wie wir mittlerweile durch zwei historische Quellen wissen, war Tutanchamun ein "leiblicher Königssohn" von Amenophis IV. (Abb. 2)
Die Mumie der jungen Dame (Younger Lady KV 35): Zum großen Erstaunen vieler Historiker verriet die DNA dieser jungen Dame uns, dass sie eine Tochter von Amenophis III. und Teje, die Schwester von Amenophis IV. und die Mutter von Tutanchamun war, was besonders viele Ägyptologen, die glauben, alles zu wissen, in arge Verlegenheit brachte. Während einige von diesen mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen gleich so umgingen, wie sie es in der Regel mit den historischen Quellen tun - nämlich alles zu seinen oder ihren Gunsten umzuinterpretieren -, fühlten sich andere in ihrer Meinung bestätigt: Bei der Mumie der jungen Dame handelt es sich mit absoluter Sicherheit nicht um Nofretete. Wer ist also die Mutter von Tutanchamun? Wie bei allen historischen Problemen muss man sich auch in diesem Fall mit der Stammtafel und der Tradition dieser Dynastie auskennen. Amenophis III. und Teje hatten insgesamt fünf Töchter, von denen wir nicht nur die Namen, sondern auch ihre ungefähren Lebensdaten kennen. Die Zeittafeln, die in der ägyptischen Geschichte verwendet werden, weichen leicht voneinander ab. Für meine Arbeit habe ich die Zeittafel der renommierten Historikerin Amélie Kuhrt verwendet. Laut dieser regierte Amenophis III. von 1403 bis 1364 v. Chr. Sein Sohn Amenophis IV. war hingegen von 1364 bis 1347 v. Chr. Pharao des ägyptischen Reiches.
Bei den Töchtern von Amenophis III. und Teje handelt es sich um 1. Sitamun, geboren im Jahr 1386 v. Chr., gestorben vor 1369 v. Chr., um 2. Isis, geboren im Jahr 1381 v. Chr., gestorben vor 1367 v. Chr., um 3. Henut-taneb, geboren im Jahr 1381 v. Chr., gestorben vor 1364 v. Chr., um 4. Nebet-ah, geboren um 1376 v. Chr., gestorben vor 1364 v. Chr., und 5. um Beketaton (oder Baketaton; ehemalig Beketamun oder Baketamun), das Nesthäkchen der Familie und Tejes Lieblingstochter, geboren um 1369 v. Chr. und gestorben um 1353/52 v. Chr. Nach dem Tod von Amenophis III. im Jahr 1364 v. Chr. war von diesen fünf Töchtern nur noch die fünfjährige Beketaton am Leben, die selbstverständlich als Vollschwester des neuen Pharaos, ihres Bruders Amenophis IV., zu dessen "Großen Königlichen Gemahlin" bestimmt war. Es gab allerdings ein Problem, denn Beketaton wies zu dieser Zeit noch nicht das Alter von 12 Jahren zum körperlichen Vollzug der Ehe auf. Amenophis IV. war jedoch nicht der erste und nicht der letzte Pharao in der ägyptischen Geschichte, dessen "Große Königliche Gemahlin" bei seiner Thronbesteigung noch ein Kind war. Sein Großvater, der Pharao Thutmosis IV., verbrachte seine ersten Jahre als Pharao mit seiner Nebenfrau Mutemwia, bevor seine Halbschwester Nefertari das Alter von 12 Jahren erreicht hatte und die Position der "Großen Königlichen Gemahlin" einnehmen konnte. Amenophis IV., der jedoch bei seinem drastischen Religionswechsel dringend eine "Große Königliche Gemahlin" benötigte, heiratete schließlich im Laufe seines dritten Regierungsjahres die hübsche Nofretete (Abb. 3), bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Enkelin des Pharaos Thutmosis IV. handelte. Jene wurde nun mit dem jungen Pharao und ihren im Laufe der nächsten Jahre geborenen Töchtern auf den Wänden der Tempel und Paläste und der Grabkammern ihrer Höflinge und Beamten abgebildet. Erst als Beketaton um 1357 v. Chr. 12 Jahre alt geworden war und die ihr zustehende Position der "Großen Königlichen Gemahlin" an der Seite ihres königlichen Bruders einnehmen konnte, hatte Nofretete sich zurückzuziehen. Man sollte sich daher unbedingt noch einmal den angewinkelten Arm mit der geballten Hand, der sich neben Beketatons Mumie befand, anschauen. Beketaton war eine Königin. Wie bei der Mumie ihrer Mutter Teje befand sich daher auch bei ihr ursprünglich ein angewinkelter Arm mit einer geschlossen Hand über ihrem Herzen.
Der Rückzug von Nofretete aus der Öffentlichkeit dauerte allerdings nur vier oder fünf Jahre. Denn um 1353/52 v. Chr. starb die junge Königin Beketaton bereits im Alter von 16 oder 17 Jahren. Sie hatte vermutlich drei Kindern, ihren beiden Töchtern Meritaton der Jüngeren, geboren um 1356/55 v. Chr., und Anches-en-paaton der Jüngeren, geboren um 1353 v. Chr., und ihrem Sohn Tutanchamun, geboren um 1354 v. Chr., das Leben geschenkt. Zahi Hawass hatte, als er die Mumie der jungen Dame sah, und Joann Fletcher behauptete, es handele sich bei dieser um Nofretete, sogleich lautstark protestiert: "Nein, nie, die junge Dame ist doch erst 16 Jahre alt." Da sprach in der Tat ein Fachmann von Mumien! Es gibt noch eine Reihe von Darstellungen von Beketaton, die sie mit ihrer geliebten nubischen Perücke wiedergeben. Sämtliche ihrer Porträts sind im Laufe der Zeit jedoch entweder Nofretete oder Kiya zugewiesen worden. Von Kiya unterscheidet sich Beketaton in ihren Darstellungen durch die Verwendung der Kartusche und der Uräus-Schlange vor ihrer Stirn. Beides stand Kiya als Nebenfrau nämlich nicht zu. Von Nofretete unterscheidet sich Beketaton in ihren Darstellungen erstens durch ihre stets getragene nubische Perücke, zweitens durch ihre Körpergröße - sie war viel kleiner als ihre Schwägerin Nofretete und ihr Bruder Amenophis IV. - und drittens durch die Tatsache, dass sie in der Regel allein neben ihrem Brudergatten steht (Abb. 4 und Abb. 5). Ich habe nur zwei Reliefdarstellungen von ihr gefunden, auf denen sie mit einem Kind wiedergegeben wurde. Von der Mumie der jüngeren Dame ist eine relativ gelungene Gesichtskonstruktion vorgenommen worden (Abb. 6). Wenn Sie diese mit der Nofretete vergleichen und sich einmal den Schmuck und die Krone wegdenken, dann müssen Sie sich doch zugestehen, dass die beiden Damen kaum Ähnlichkeit miteinander aufweisen. Und nun schauen Sie sich einmal die Büste und das Gipsmodell an, die ich von Beketaton während meiner Studien gefunden habe (Abb. 7 und Abb. 8). Tutanchamun hatte in der Tat sehr viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter (Abb. 9). Wenn Sie mehr über Beketaton, Nofretete, Teje oder andere bedeutende Frauen der ägyptischen Geschichte wissen möchten, kann ich Ihnen mein Buch "Frauen in der Antike I.", an dem ich gerade arbeite, ans Herz legen.
Standorte der Skulpturen:
- in Berlin, Deutsches Museum: Abb. 3, Abb. 5, Abb. 7, Abb. 8 und Abb. 9
- in Kairo, Ägyptisches Museum: Abb. 4