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Alltagsgeschichte des Mittelalters

V. 4.1. Die sexualfeindlichen Theorien bedeutender Kirchenväter

Die Lust- und Sexualfeindlichkeit und den Sexualpessimismus hatte die Kirche von den griechischen, römischen und jüdischen Philosophen der Antike übernommen.

Diesen antiken Herren geistig folgend hielt sie schließlich die Ehelosigkeit und damit verbunden die sexuelle Enthaltsamkeit für moralisch höher als die Ehe. Sexualität und Ehe wurden sowieso eins! Der außereheliche Geschlechtsverkehr war nämlich kirchlicherseits verboten.

Origines († um 254), einer der bedeutendsten Theologen der katholischen Kirche, stellte als erster Geistlicher die Behauptung auf, daß der Sündenfall von Adam und Eva im Paradies ein sexuelles Vergehen gewesen wäre, das als Erbsünde alle ihre Nachkommen belasten würde. Denn durch diesen Sündenfall wäre jeder neugeborene Mensch durch den elterlichen Zeugungsakt schuldig und sündig.

Diese Theorie wurde von anderen bedeutenden Kirchenvätern aufgegriffen und erweitert.

So sah Augustinus († 430) in der Sexualität der Menschen eine Strafe Gottes für Adam und Evas Sünde im Paradies und vertrat die Auffassung, daß das Kind durch die bei jedem Zeugungsakt vorhandene Lust automatisch mit der Erbsünde befleckt würde.

Seiner Meinung nach unterschied sich die Ehe im Paradies grundsätzlich von der Ehe nach dem Sündenfall. Denn der Zweck der Paradiesehe war einzig und allein die Erzeugung von Nachkommen. Der notwendige Geschlechtsakt geschah dabei angeblich ohne Lustgefühl, da die Geschlechtsorgane im Paradies völlig dem Willen unterworfen waren.

"Warum sollte es unglaubhaft erscheinen, daß die Beschaffenheit der ersten menschlichen Körper von der Art gewesen ist, daß die Menschen mit dem Wink über die Geschlechtsorgane verfügten, mit dem man über Füße verfügt, wenn man spazierengeht, so daß weder mit Liebesglut gezeugt noch unter Schmerzen geboren würde?" (in: Georg Denzler, ebenda, S. 44/45)

Laut Augustinus konnte nur die Taufe die Menschen von der Erbsünde befreien. So gelangten die schon mit der Erbsünde befleckten, aber noch ungetauften Kinder nicht ins Himmelreich!

Der angesehene Pariser Theologieprofessor Johannes Beleth († um 1165) verbot daraufhin, "daß tote schwangere Frauen beim Begräbnisgottesdienst in der Kirche aufgebahrt wurden, da das ungeborene Kind noch nicht getauft war. Ferner mußte, bevor die Schwangere in geweihter Friedhofserde begraben werden konnte, das Kind aus ihrem Leichnam herausgeschnitten und außerhalb des Friedhofs begraben werden." (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 82)

Vielleicht versteht man nun, warum auch heute noch in katholischen Krankenhäusern im Falle einer Geburtskomplikation das Leben der Mutter weniger wertvoll als das Leben des Kindes erscheint. Denn nach der Theorie des Augustinus' kann das Kind, da es noch nicht getauft ist, nicht die ewige Seligkeit erlangen, die getaufte Mutter aber jederzeit.

Nicht alle Geistlichen waren damals bereit, Augustinus' Erbsündentheorie unwidersprochen hinzunehmen. Der Priester Caelestius und sein Lehrer Pelagius ließen verkünden: "... die Sünde Adams habe diesem allein geschadet, nicht aber dem ganzen Menschengeschlecht, und die Kinder kämen in demselben Zustand zur Welt, in dem Adam sich vor dem Sündenfall befunden habe." (in: Georg Denzler, ebenda, S. 45)

Augustinus jedoch gelang es, seinen lästigen Gegenspieler Caelestius in der Synode von Karthago im Jahre 416 zum Ketzer stempeln zu lassen. Auf diese Art und Weise brachte er noch andere Konkurrenten zum Schweigen. So wurde seine "Erbsündentheorie" schließlich ein wichtiger Baustein des christlich-katholischen Denkgerüstes.

Und noch etwas bewirkte der große Kirchenvater Augustinus, der als junger Mann dem weiblichen Geschlecht keineswegs abgeneigt war. Er ließ nämlich verkünden, daß der eheliche Sexualverkehr nur schuldfrei wäre, wenn er zur Zeugung von Nachkommen stattfinden würde. Jeden Verkehr aus reiner Lust dagegen hielt er für eine verzeihliche, aber "läßliche Sünde".

Im 12. und 13. Jh. wurde schließlich jeder Geschlechtsverkehr wegen der damit verbundenen Lust, auch wenn er der Zeugung von Nachkommen diente, zu einer leichten Sünde.

Wer dagegen nur aus reiner Lust den Verkehr beging, sündigte fortan schwer!

Was konnte aber eine Frau, die keine Sünde begehen wollte, tun, wenn sie von ihrem Manne zum Geschlechtsverkehr aufgefordert wurde?

Thomas von Aquin († 1274), der große Scholastiker des 13. Jhs., riet ihr, den Ehemann durch "eifrigstes, aber kluges Bemühen von seinem Vorhaben abzubringen". Klappte dies nicht, mußte sie ihm zur Verfügung stehen, da ihr Mann sonst eventuell eine andere Frau aufsuchen und damit eine schwere Sünde begehen würde.

Diese Pflicht zum Geschlechtsverkehr forderte er selbst, wenn der Ehegatte pestkrank war.

Immerhin fanden Augustinus und Albert Magnus († 1280), der Lehrer von Thomas von Aquin, tröstliche Worte für die Frauen, die sich den Wünschen ihrer Männer fügten.

Denn laut Augustinus war derjenige Ehepartner sündenmäßig entschuldigt, der den Verkehr nur auf Verlangen des anderen "lustlos" leistete.

Und Albert Magnus meinte: "Wer Verkehr leistet, der billigt nicht, sondern bedauert das geschlechtliche Verlangen des Ehegatten. Er beabsichtigt nicht, dessen Lust zu fördern, sondern die Krankheit des Gatten zu heilen." (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 188)

Im Laufe des Mittelalters wurde die Sexualität der "anderen" zum Hauptbeschäftigungsfeld der geistlichen Herren. Denn Fragen über Fragen häuften sich.

Gibt es z.B. einen Geschlechtsverkehr ohne Sünde?

Wilhelm von Auxerre († 1231) meinte dazu: "Wenn ein heiliger Mann ... seine Frau erkennt und ihm die hierbei auftretende Lust...keineswegs gefällt, vielmehr verhaßt ist, dann ist dieser Verkehr ohne Sünde. Doch das kommt selten vor." (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 163)

Huguccio († 1210), der berühmte Rechtsgelehrte und Kardinal von Ferrara, sah das ganz anders: "Die Lust kann niemals ohne Sünde sein." (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 164)

Aber es tauchten noch weitaus schwierigere Fragen auf!

Ist der Geschlechtsverkehr mit einer schönen oder mit einer häßlichen Frau eine größere Sünde?

Auch hier waren sich die geistlichen Herren nicht einig!

Petrus Cantor († 1197) behauptete, "der Verkehr mit einer schönen Frau sei größere Sünde als der mit einer häßlichen Frau, weil er mehr ergötze. Denn die Größe der Lust bestimme die Größe der Sünde." (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 164)

Alanus von Lille († 1202) dagegen erwiderte: "... wer mit einem schönen Weib verkehre, sündige weniger, ‚weil er durch den Anblick ihrer Schönheit mehr gezwungen wird‘ und ‚wo größerer Zwang, da ist geringere Sünde.‘" (in: Uta Ranke-Heinemann, ebenda, S. 164)

Gegen Ende des 12. und 13. Jhs. versuchten einige Sekten wie die Katharer und die Waldenser die Kirche in ihrer Sexualfeindlichkeit sogar noch zu übertreffen. Sie fanden in der Bevölkerung so großen Zulauf, daß die Kirche sich gegenüber diesen gefährlichen Konkurrenten nur noch wehren konnte, indem sie zum Kreuzzug gegen diese Sekten aufrief.


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