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Alltagsgeschichte des Mittelalters

X. 8. Die Geburtshilfe

Was die berühmte Äbtissin Hildegard von Bingen über die Empfängnis wußte:
"Ist die Frau in Vereinigung mit dem Manne, so kündet die Wärme in ihrem Gehirn, die das Lustgefühl in sich trägt, den Geschmack dieses Lustgefühls bei der Vereinigung vorher an, wie auch den Erguß des Samens. Ist der Samen an seinen Ort gefallen, dann zieht ihn die eben erwähnte, sehr starke Wärme des Gehirns an sich und hält ihn fest. Fast gleichzeitig damit ziehen sich auch die Nieren des Weibes zusammen und alle die Teile, die während des Monatsflusses zur Öffnung bereit stehen, schließen sich zur selben Zeit so fest, wie wenn ein starker Mann irgendeinen Gegenstand fest in der Hand verschließt. Dann mischt sich das Monatsblut mit dem Samen, macht ihn bluthaltig und läßt ihn zu Fleisch werden. Nachdem er zu Fleisch geworden ist, umgibt dasselbe Blut dies mit einem Gefäße, so wie ein Wurm, der aus sich selbst heraus sich eine Behausung bildet. An diesem Gefäße arbeitet das Blut von Tag zu Tag weiter, bis sich ein Mensch in ihm gestaltet und derselbe Mensch den Lebenshauch aufnimmt. Dann wächst es mit demselben Menschen weiter und wird so fest gelagert, daß es bis zum Austritt dieses Menschen sich nicht von seiner Stelle verrücken kann." (in: Die Äbtissin Hildegard von Bingen, ebenda, S. 101)

Dabei sollte es laut der Äbtissin verschiedene Arten der Empfängnis geben:
"Wenn ein Mann mit dem Erguß eines kräftigen Samens in rechter Liebe und Zuneigung zum Weibe sich diesem naht und das Weib zur selben Stunde ebenfalls die rechte Liebe zum Manne empfindet, so wird ein männliches Kind empfangen, weil dies so von Gott angeordnet ist. Es ist auch nicht anders möglich, als daß ein männliches Kind empfangen wird, weil auch Adam aus Lehm geschaffen wurde, der ein kräftigerer Stoff ist wie das Fleisch. Dieser Knabe wird klug und reich an Tugenden werden, weil er empfangen wurde mit kräftigem Samen und bei der richtigen gegenseitigen Liebe und Zuneigung. Fehlt aber dem Weibe die Liebe zum Manne, so daß nur der Mann zu dieser Zeit das rechte liebende Verlangen zum Weibe hat und das Weib nicht zum Manne, so wird gleichwohl ein männliches Kind empfangen, wenn der Samen des Mannes kräftig ist, weil das Liebesgefühl des Mannes die Überhand hat. Dieser Knabe wird aber schwächlich sein und keine tüchtigen Eigenschaften besitzen, weil hier dem Weibe die Liebe zum Manne fehlte. Ist der Samen des Mannes schwach, hat dieser gleichwohl Liebe und Zuneigung zum Weibe und dies die gleiche Liebe zu ihm, so wird ein tugendreiches weibliches Kind gezeugt. Empfindet nur der Mann Verlangen zum Weibe und dies nicht zu ihm, oder fühlt nur das Weib die rechte Liebe zum Manne und dieser nicht zu ihm, ist zur selben Stunde der männliche Samen dünn, so entsteht, weil dem Samen die Kraft fehlt, daraus ebenfalls ein Mädchen. Ist aber der Samen des Mannes vollkräftig, hat aber trotzdem weder der Manne zum Weibe noch das Weibe zum Manne die gegenseitige liebende Zuneigung, so wird ein Knabe gezeugt, weil trotzdem der Samen seine Vollkraft hatte. Er wird aber ein unangenehmer Mensch werden wegen der gegenseitigen Abneigung der Eltern. Ist aber der Samen des Mannes dünn und fühlt zur selben Stunde keiner von beiden Liebe und Zuneigung zum anderen, so wird ein Mädchen von unerfreulichem Wesen gezeugt. Die Wärme solcher Frauen, die von Natur fettleibig sind, überwältigt den Samen des Mannes, daher häufig das Kind im Gesicht solchen Frauen ähnlich wird. Solche Frauen aber, die von Natur mager sind, bringen zumeist Kinder zur Welt, die in ihrem Antlitz dem Vater gleichen... Bei zunehmendem Mond, wenn auch die Zunahme des Blutes im Menschen vor sich geht, ist der menschliche Samen kräftig und stark, und bei abnehmendem Mond, wenn auch das Blut im Menschen abnimmt, ist der menschliche Samen schwach und ohne Kraft, wie Hefe und deshalb minderwertiger zur Hervorbringung von Nachkommenschaft. Hat ein Weib um diese Zeit empfangen, sei es, daß es ein Knabe oder ein Mädchen geworden ist, so wird ein solcher Mensch unkräftig, schwächlich und nicht besonders tüchtig sein." (in: Die Äbtissin Hildegard von Bingen, ebenda, S. 39/40/77/78)

Stand schließlich die Geburt bevor, besuchten die werdenden Mütter häufig die Kirche, um ihre Schutzheiligen, Godehard († 1038), den Patron gegen schwere Geburten, und Norbert († 1134), den Patron für eine glückliche Geburt, anzurufen. Zudem trugen die schwangeren Frauen oft eine blaue Wachsscheibe mit dem Bild des Lamm Gottes um ihren Hals, das sie vor dem Tod im Kindbett schützen sollte, oder am linken Handgelenk als Amulette Adlersteine, damit ihre Niederkunft ohne Gefahren verlaufe. Bei den Adlersteinen handelte es sich um hohle Steine mit abgelösten Stücken im Inneren, die man klappern hören konnte. Auch ein mit Spitzen besetzter Hüftgürtel sollte die Garantie für eine leichte Entbindung geben.

Die Geburt selbst fand im Normalfall zu Hause mit Hilfe einer Hebamme statt, die auch Mittelchen gegen Geburtswehen kannte.

Nach einer erfolgreichen Geburt kümmerte sich die Hebamme um das Neugeborene, indem sie dessen Nabelschnur in einer Länge von vier Fingern abtrennte und unterband und schließlich das Kind badete und mit Salz und manchmal mit zerstoßenen Rosenblättern oder Honig abrieb, um seinen Körper vom Schleim zu befreien. Sie strich ihm auch mit dem Finger Honig auf Gaumen und Zahnfleisch, um die Innenseite des Mundes zu reinigen und den Appetit des Säuglings anzuregen. In den darauffolgenden 10-14 Tagen besuchte die Hebamme zudem die Mutter und das Neugeborene täglich, um nach dem rechten zu schauen.

Bei einer abnormalen Lage des Kindes im Mutterleib mußte die Hebamme das Kind zurück in den Mutterleib drücken und dessen Position mit ihren Händen entweder von innen oder von außen verändern.

Zu frühgeborene Kinder hüllten die Hebammen solange in das Fett eines neugeborenen Schweines, bis die Kleinen ihre Körpertemperatur selbst halten konnten.

Falls es Zeichen gab, daß das Kind, bevor es die Gebärmutter verlassen konnte, sterben würde, hatte die Hebamme eine Taufspritze, gefüllt mit Weihwasser, in die Gebärmutter der Frau einzuführen, damit das Kind noch vor seinem Tode getauft werden konnte. Das tote Kind durfte sie dann entweder durch bestimmte Medikamente, die den Abort hervorriefen, wie Bibergeil, Myrrhe und Raute oder mit Hilfe eines Speculums und zweier Haken oder krallenartiger Instrumente herausholen. Im letzteren Fall war die gesamte Prozedur eine ekelhafte Angelegenheit, da das tote Kind stückchenweise entfernt werden mußte. Zum Vollzug dieser Taufen bei den sterbenden Kindern im Mutterleib waren – nebenbei bemerkt – die Hebammen auf den Synoden von 1233 und 1277 kirchlicherseits verpflichtet worden.

Besonders gefürchtet war bei den werdenden Müttern das Kindbettfieber, das sehr häufig bei der ersten Geburt auftrat. Entsprechende Risiken gab es dann erst wieder bei den achten und zehnten Geburten.

In manchen Gegenden durften die Hebammen den sterbenden Müttern die Beichte abnehmen und ihnen Absolution erteilen.

Hebammen wurden jedoch nicht nur zu Geburten gerufen. Sie betreuten die Frauen auch während der Schwangerschaft und versuchten, unfruchtbaren Ehepaaren zu helfen. Denn Kinderlosigkeit wurde als Strafe Gottes verstanden. So unterzogen sich unfruchtbare Frauen ärztlich verordneten Kuren, unternahmen langwierige Reisen zu Badeorten, wallfahrten zu Gnadenbildern und schreckten selbst vor der Anwendung von Zaubermitteln nicht zurück.

Kleinere wie größere operative Eingriffe, wie das Zunähen eines Dammschnittes oder der Kaiserschnitt, wurden ebenfalls von den Hebammen vorgenommen. Der Kaiserschnitt durfte jedoch erst an der toten oder sterbenden Mutter praktiziert werden. Aus dem Jahre 1264 war ein Fall bekannt, daß eine Kreißende zu sterben begann und deshalb von den Hebammen mit einem scharfen Messer an der linken unteren Körperhälfte geöffnet wurde. Aus ihrem Leib zogen sie einen gesunden Knaben hervor. Anschließend umwickelten sie den Leib der Frau mit Binden und legten ihn auf eine Bahre zur Beerdigung. Die Wunde hatte sich jedoch wieder geschlossen, und die Frau erwachte noch rechtzeitig, bevor sie verscharrt wurde.

Erst im Jahre 1500 wurde der erste erfolgreiche Kaiserschnitt an einer Lebenden vollzogen. Der "Schneider" war jedoch nicht ein Arzt oder eine Hebamme, sondern der Schweizer Schweinekastrierer Jacob Nufer, der seine geliebte Frau nicht aufgeben wollte. Mit einem einzigen tiefen Schnitt öffnete er ihren Uterus und zog das Kind heraus. Dann nähte er die Bauchdecke seiner Frau in der gleichen Weise zu, wie er es bei seinen von ihm operierten Schweinen zu tun pflegte. Seine Gattin überlebte diese Prozedur nicht nur, sondern brachte im nächsten Jahr noch Zwillinge – ohne Kaiserschnitt – auf die Welt.

Gegen Ende des 15. Jhs. und zu Beginn des 16. Jhs. erschienen schließlich auch zwei Bücher, die sich mit der Geburtshilfe und den Frauenkrankheiten beschäftigten, das "Frauenbüchlein" von Ortolff von Bayerland, gedruckt um 1495 in Ulm, und der "Rosengarten" von Eucharius Rösslin, das zum erstenmal 1513 in Straßburg gedruckt wurde.

Eucharius Rösslin war ein hochangesehener Arzt, der zuerst in Freiburg im Breisgau und später in Frankfurt a. M. und in Worms als Stadtarzt tätig war. In Worms starb er im Jahre 1526. Sein Buch "Rosengarten" schrieb er auf Anregung der Herzogin Katharina von Braunschweig und Lüneburg, bei der er 1508 vorübergehend als Privatarzt tätig war.

Das Ansehen der Hebammen, das im gesamten Mittelalter sehr hoch war, begann sich gegen Ende des 15. Jhs. drastisch zu verschlechtern, denn viele von ihnen wurden von der Kirche und deren Vertretern von nun an bevorzugt als Hexen diffamiert. So erklärten die Dominikaner Henricus Institoris und Jakobus Sprenger in ihrem "Hexenhammer" aus dem Jahre 1484, daß die Hebammen besonders gefährdet und befähigt wären, Hexen zu werden. Sie könnten schließlich die Empfängnis verhindern und Fehlgeburten herbeiführen. Besonders warnten diese Geistlichen vor Hexenammen, die nicht nur Ungeborene, sondern auch Neugeborene dem Teufel opfern würden, indem sie in einem unbewachten Augenblick die Kinder in ein Nebenzimmer tragen würden, um sich mit ihnen dreimal vor dem imaginären Satan zu verneigen. Zudem würden diese Hexen die Säuglinge benötigen, um aus ihnen Fett für ihre Reitstöcke zu gewinnen, die ohne diesen Zusatz nicht in der Lage wären, ihre Reiterinnen durch die Lüfte zu tragen.

Im 16./17. Jh. beschuldigte man sie zudem noch der Gotteslästerung, der Sodomie, der Zauberei, der Kuppelei und des Ehebruches. Außerdem verbreiteten die katholischen wie die protestantischen Geistlichen, daß die Hebammen Kinderfleisch essen oder dieses dem Teufel überreichen würden, daß sie mit dem Teufel Unzucht trieben, Gott verleugneten, Menschen in Tiere verwandelten, Haustieren Schaden zufügten, durch Unwetter Felder zerstörten und den Männern ihr teures Glied wegzaubern könnten!

In Köln z.B. wurden von 1627 - 1630 nahezu alle Hebammen der Stadt als Hexen verbrannt.


Lesetipps:
  • Blumenfeld-Kosinski, Renate: Not of Women Born – Representations of Caesarean Birth in Medieval and Renaissance Culture. Ithaca und London 1990 (sehr gutes Bildmaterial!)
  • Brackert, Helmut: "Unglückliche, was hast du gehofft?" Zu den Hexenbüchern des 15. bis 17. Jahrhunderts, S. 131-187, in: Gabriele Becker u.a.: Aus der Zeit der Verzweiflung – Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt am Main 1977
  • Kammeier-Nebel, Andrea: Wenn eine Frau Kräutertränke zu sich genommen hat, um nicht zu empfangen..., S. 65-73, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann. Stuttgart 1987 (3. Auflage)
  • Rößlein, Eucharius: Der Swangern Frauwen und hebammen Rosegarten. Faksimile. Zürich 1976
  • Jakob Sprenger und Heinrich Institoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt. München 1987 (7. Auflage)

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