Hans Holbein der Jüngere: Erasmus von Rotterdam, 1523
Erasmus von Rotterdam
Erasmus wurde am 27./28.10.1466 unehelich in Rotterdam geboren. Seine Mutter, Margarethe, die Tochter eines Arztes, hatte schon seit mehreren Jahren ein Verhältnis mit seinem Vater, einem Priester namens Gerhard (oder Gerard). Erasmus war das zweite Kind dieser Liebesbeziehung. Sein Bruder Peter wurde drei Jahre vor ihm geboren. Nur wenige Jahre konnte Erasmus mit seinem Bruder bei seiner Mutter leben. Dann – zum Unglück der Kinder – starben beide Elternteile kurz nacheinander. Der Vormund, der für Erasmus daraufhin zuständig war, wollte sich von der ihm aufgebürdeten Last befreien und zwang deshalb sein Mündel, Augustinerchorherr zu werden. So lebte Erasmus von 1481-1486 in der Klosterschule zu Herzogenbusch und von 1486-1492 im Augustinerkloster Steyn bei Gouda.
Erasmus aber haßte das Mönchsleben aus tiefstem Herzen. Er empfand die Unfreiheit und die körperlichen Züchtigungen des Klosterlebens bedrückend und erniedrigend. Unter Zwang jedoch mußte er um 1488 die Mönchsgelübde ablegen. Seinem Bruder, der im Augustinerkloster Sion bei Delft lebte, erging es nicht anders. Am 25.4.1492 wurde Erasmus zum Priester geweiht. Der Weg nach draußen gelang ihm schließlich 1492/93, als er in den Dienst des Bischofs von Cambrai trat und dessen Sekretär wurde. 1494/95 begann er zudem mit seinem theologischen Studium an der Hochburg scholastischer Wissenschaft, Sorbonne. Sein Ziel war, Doktor der Theologie zu werden. Bis 1498 wurde er finanziell vom Bischof von Cambrai unterstützt; danach versuchte er sich, als Erzieher und Hauslehrer allein über Wasser zu halten.
1499/1500 lernte er durch seinen Schüler Lord Mountjoy, England und Thomas More (Abb. 185) kennen. England bereiste er in seinem Leben insgesamt viermal. Der zweite Besuch erfolgte 1505. Danach fand man ihn in Italien. Dort erwarb er im Jahre 1506 in Turin den Doktorgrad in der Theologie. 1507/08 weilte er schließlich in Venedig, Padua, Ferrara, Pavia, Bologna, Florenz und Siena und 1509 in Rom und Neapel.
Der dritte Englandaufenthalt währte von Ende 1509 bis April 1511. In Cambridge konnte er im Jahre 1511 Vorlesungen über Theologie und griechische Grammatik halten. Das Jahr 1511 war für ihn aber auch noch in anderer Hinsicht bedeutsam, denn sein Kloster rief ihn zur Rückkehr. Dazu war Erasmus mittlerweile jedoch nicht mehr bereit. 1514 fand man ihn schließlich in Basel. Dort lebte er bei seinem Freund Johannes Froben (Abb. 186), der die bedeutendste Druck- und Verlagsanstalt Zentraleuropas besaß und der seit dieser Zeit die Werke von Erasmus drucken und veröffentlichen ließ. So ließ Erasmus dort im Jahre 1516 z.B. das Neue Testament in der Ursprache drucken und gab die Schriften des Kirchenvaters Hieronymus heraus. Mit diesen beiden Werken wuchs sein Ansehen im Abendland. Er wurde zur unbestrittenen Autorität der theologischen Wissenschaft. Im Erfolgsjahr 1516 reiste er zum vierten und letzten Mal nach England. 1517 entband ihn Leo X. (Abb. 187) endlich von seinen Ordensgelübden. Auf Geld von der Kirche war er nicht mehr angewiesen, er verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf seiner Bücher. Von 1521-1529 lebte er in Basel. Erst als letztere Stadt protestantisch wurde, verließ er sie am 13.4.1529 und wohnte und wirkte bis 1535 in Freiburg. Am 12.7.1536 starb er in seinem geliebten Basel, in das er ein Jahr zuvor zurückgekehrt war, und wurde im dortigen Münster beigelegt.
Was war Erasmus für ein Mensch? Was beschäftigte ihn? Wie stand er zum Protestantismus? Diese Fragen sollten noch beantwortet werden!
Das Äußere von Erasmus war nicht besonders einnehmend. Seine Nase war zu lang, sein Mund zu breit, und sein Hinterkopf zu kurz. Seine Zeitgenossen berichteten von ihm, daß er eitel war und sehr viel Sorgfalt auf sein Äußeres legte. Zudem war sein Gesundheitszustand nicht der Beste. Stets fröstelte er und trug wegen der Kälte gleich zwei pelzgefütterte Schauben (Mäntel) übereinander. Ja, man kann sagen, daß er fast ein Hypochonder war. Er hatte schreckliche Angst vor Krankheiten und war zudem pingelig sauber. Und seine Unstetigkeit und Ruhelosigkeit trieb ihn immer wieder an neue Orte. Als Autodidakt hatte er sich die wesentlichen Sprachkenntnisse selbst beigebracht. Als Gefühlsmensch konnte er sehr hassen, war leicht zu erzürnen und neigte zu spöttischem Tonfall und Sarkasmus, aber er konnte auch sehr lieben und sehr einfühlsam, humorvoll und witzig sein.
Weil er sich in dem Konflikt „Katholische Kirche – Martin Luther“ nicht für eine Partei entschied, wurde ihm von seinen Zeitgenossen Feigheit und Überängstlichkeit vorgeworfen. Aber Erasmus war nun einmal ein Mensch, der Konflikte und jede Form von Gewalt und Radikalität ablehnte. Er arbeitete und wirkte lieber im Hintergrund mit einem Gläschen seines geliebten Burgunderweines.
Das Ziel seiner Gelehrtenarbeit war, zurück zu den Quellen zu finden. Er wollte also den Urtext der Heiligen Schrift und die antiken Schriftsteller wieder entdecken. Außerdem wünschte er sich ein gereinigtes Christentum, in dem kein Aberglaube mehr Platz haben und in dem die großen Heiden gleichberechtigt neben den großen christlichen Gestalten stehen sollten. Die Mißstände der Kirche wollte er nur mittels klassischer Bildung beseitigen. Gewalt lehnte er strikt ab! Nur schriftlich und verbal ging er gegen die Institution des Priester- und Mönchwesens, gegen das Ablaßwesen und sogar gegen die Päpste, Kardinäle und Bischöfe vor. So warf er den Päpsten Folgendes vor: „In der Regel aber überlassen sie (die Päpste) alles, was Mühe und Arbeit macht, den Aposteln Petrus und Paulus, die ja Zeit genug haben; ein glänzendes Vergnügen aber nehmen sie selbst wahr.“ (in: Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Frankfurt am Main 1979, S. 122).
Zudem hielt er ihnen vor, daß sie verantwortungslos mit ihrem hohen Amt umgingen. Je nach Lust und Laune würden sie Verbote, Amtsenthebungen, Bannandrohungen und den Bannstrahl erlassen. Ohne sich eigentlich der Wirkung ihres Tuns voll bewußt zu sein, schickten sie die menschliche Seele dadurch in die tiefe Hölle hinab. Durch Angstmacherei würden sich die Geistlichen, ob Kleriker oder Mönche, außerdem schwer bereichern.
Den Theologen warf er vor, sie würden die Bibel nach ihrem Sinne auslegen und verändern, indem sie Wörter oder ganze Sätze weglassen oder einfach Neues hinzufügen würden, geradeso wie es ihnen paßt. Außerdem machte sich Erasmus lustig über die, die glauben würden, sie könnten durch Einhalten der Zeremonien, durch Herunterleiern von Psalmen, Liedern und Gebeten oder durch Fasten und Enthaltsamkeit in den Himmel gelangen. Er versuchte seinen Mitmenschen klarzumachen, daß nur die praktizierte Nächstenliebe zu Gott führen kann. 1527 wandte er sich schließlich auch gegen die Inquisition und forderte im Namen Jesus Christus religiöse Toleranz! Über seine Beziehung zu Martin Luther schrieb er 1524 an Johannes Caesarius: „Ich habe das Ei zur Welt gebracht, Luther hat es ausgebrütet“ und an Ulrich Zwingli: „Es scheint mir, als habe ich ziemlich alles das gelehrt, was Luther lehrt, nur nicht so heftig und mit Enthaltung gewisser Rätsel und Paradoxen“. 1524 war auch das Jahr, in dem Erasmus mit Luther offen brach. Sein Urteil über den Reformator und dessen Lehre lautete in seinem Brief an Willibald Pirckheimer nun: „Wo immer die lutherische Lehre regiert, da ist der Untergang der Wissenschaft.“ (in: Carl J. Burckhardt: Bilder aus der Vergangenheit, Frankfurt a. M. und Hamburg 1956, S. 78). Luther selbst schrieb in diesem Jahr Folgendes über Erasmus: „Erasmus ist rechter Momus (antike Gestalt, die den Spott verkörpert). Über alles lacht und spottet er, über die ganze Religion und über Christus. Und damit er das besser an den Tag lege, ersinnt er Tag und Nacht zweideutige und doppelsinnige Worte, so daß seine Bücher auch von einem Türken gelesen werden könnten. Und wenn man meint, er habe viel gesagt, so hat er überhaupt nichts gesagt. Alle seine Schriften können nach Belieben gedeutet werden; darum kann er weder von uns noch von den Papisten gepackt werden, wenn man ihm nicht vorher eine Zweideutigkeit wegnimmt.“ (in Weimarer Tischreden 1, 811 (nach 1530))
Durch seine passive Haltung in der Reformationsfrage hatte er sich viele Sympathien auf beiden Seiten verscherzt. Die katholischen Theologen lehnten ihn als Wegbereiter der lutherischen Reformen ab. Papst Paul IV. sollte schließlich im Jahre 1558 seine sämtlichen Werke sogar auf den Index der verbotenen Bücher setzen. Die Protestanten nahmen ihm übel, daß er 1521 nicht zum Reichstag nach Worms gekommen war, obwohl er von ihnen dazu eingeladen und gebeten worden war. Außerdem konnten sie ihm seine Schrift gegen Luther im Jahre 1523 nicht verzeihen. So saß Erasmus zwischen zwei Stühlen. Der katholischen Kirche warf er vor, durch ihre Reformunwilligkeit dieses Chaos „Reformation“ erst hervorgerufen zu haben, und dem Führer der protestantischen Bewegung, Martin Luther, gab er deutlich zu verstehen, daß man nichts unüberlegt niederreißen sollte, ohne einen besseren Ersatz vorbereitet zu haben. Zudem wollte er nie einer Partei angehören. „Unter Partei verstehe ich das völlige Eingeschworensein auf alles, was Luther geschrieben hat. Eine solche Art völliger Selbstaufgabe kommt auch bei ausgezeichneten Menschen vor. Ich aber liebe die völlige Freiheit und will und kann niemals einer Partei dienen.“ (Erasmus in seinem Werk „Spongia“, 1523, in: Franz Rueb: Ulrich von Hutten 1488-1523, Zürich 1988). Und an den Bischof von Tuy, Alois Marlian, schrieb er bereits im Jahre 1520: „Die Freunde Luthers suchten mich auf ihre Seite zu ziehen, die Feinde desselben bemühten sich, mich durch Schmähungen in Predigten in seine Partei hinüberzustoßen. Ich habe mich jedoch durch alle diese Parteibestrebungen nicht von meinem Standpunkte hinwegrücken lassen. Christum erkenne ich an, Luther kenne ich nicht. Aufruhr und Unruhen habe ich stets verabscheut, und wollte Gott, Luther und alle Deutschen hätten denselben Sinn! Niemand schadet Luther mehr, als er sich selbst durch das Herausgeben immer neuer und gehässiger Schriften. Ich lobe die, welche es mit dem römischen Papste halten. Aber ich wünsche ihm geschicktere Gönner und Beschützer. Jene haben nach nichts weiter Hunger als nach Luther, und mir kann´s gleich sein, ob sie ihn lieber gesotten oder gebraten haben möchten.“ (in: Martin Luther, dargestellt von seinen Freunden und Zeitgenossen, Berlin 1933, S. 88)
So starb der große Humanist gerade zu einem Zeitpunkt, als niemand mehr etwas von ihm und seinen großartigen Ideen wissen wollte. Wir Menschen von heute sollten uns mit seinen Vorschlägen wieder auseinandersetzen und wie er auf friedlichem Wege unsere Probleme auch mit der Kirche zu lösen versuchen. Vielleicht wird die Kirche im Sinne von Erasmus doch noch großzügiger und toleranter.