"Joseph unterschied sich von seinem Vater [Leopold I.] sowohl äußerlich als auch charakterlich. Schon als Kind war er äußerst lebhaft und verwegen gewesen. Die geduldige, gründliche, gelehrtenhafte Art seines Vaters fehlte ihm. Schnell war er gelangweilt, immer unberechenbar. Leopold I. sorgte dafür, daß er die seiner zukünftigen Position entsprechende Ausbildung erhielt und seiner hohen Stellung gemäß behandelt wurde, aber die Beziehungen zwischen Vater und Sohn blieben kalt und gingen über pflichtmäßige Kontakte nicht hinaus. Josephs Erzieher, Prinz Karl Theodor von Salm, sein 'Ajo', ein intelligenter und freundlicher Herr, hatte in kürzester Zeit die Zuneigung seines Schützlings gewonnen. Im Lauf der Zeit verstand er es immer besser, mit dem hitzköpfigen Thronfolger umzugehen. Interessanterweise waren keine Jesuiten unter Josephs Lehrern, und Salm war zwar fromm, aber kein Gegner der neuen rationalistischen Geistesbewegung Westeuropas. Der interessanteste von Josephs Lehrern aber war sein Lehrer in Geschichte und Politik, Doktor Hans Jakob Wagner, Jurist, Humanist, vielgereister Schriftsteller und Autor von flammenden patriotischen Pamphleten, in denen er die Deutschen zum Widerstand gegen Ludwig XIV. aufrief." (in: Johann P. Spielman, Leopold I. - Zur Macht nicht geboren, ebenda, S. 169).
"Kaum aber war Josef in die Regierung eingetreten, war er auch schon der Dorn im Auge der kaiserlichen Minister [seines Vaters, des Kaisers Leopold I.]. Nicht nur störte sie seine ungestüme Art, in allen seinen Äußerungen machte sich der Einfluß seines ehemaligen Erziehers, des Fürsten Salm, bemerkbar. Karl Theodor Otto Fürst Salm, Herrscher über zwei kleine rheinische Fürstentümer und treuer Diener der Dynastie, stand schon lange an der Spitze derer, die sich über die Unfähigkeit und Entschlußlosigkeit des leopoldinischen Kabinetts beklagten. Als ehemaliger Protestant und Student der Philosophie trat er für die absolute Trennung von Staats- und Religionspolitik ein und war ein vehementer Gegner der Jesuiten am Hof. ... Indem er sich mit Josefs Religionslehrer, dem Weltpriester Franz Ferdinand von Rummel, verbündete und ihn gegen die Intrigen der Gesellschaft Jesu verteidigte, trug Salm mit dazu bei, daß Josef seit über 100 Jahren der erste habsburgische Thronfolger war, der nicht von Jesuiten erzogen wurde. Ja, auch der von Salm ernannte 'instructor in historicis et politicis', H. J. Wagner von Wagnerfels, wies in seinen Lektionen immer wieder auf die Notwendigkeit hin, größere religiöse Toleranz walten zu lassen und den Einfluß der Geistlichkeit am leopoldinischen Hof zurückzuschrauben. So war es kein Wunder, daß Josef, schon bevor er der Regierung beitrat, einiges Mißfallen hervorrief, als er ausgerechnet einen protestantischen Edelmann zum Dienst in sein Schlafzimmer rief. Und schon damals scheute er sich nicht, offen den Intrigen der Jesuiten entgegenzutreten, die mit allen Mitteln die Entlassung seines Lehrers Rummel erreichen wollten. So wurde auf sein Geheiß ein Mitglied der Gesellschaft Jesu aus dem Fenster geworfen, der nachts als Geist verkleidet sich seinem Bett genähert hatte, um ihm Rummels Entlassung abzuringen [wie jene es sehr oft, als Geister verkleidet, bei seinem Urgroßvater, dem Kaiser Ferdinand II., taten, in diesem Fall waren die Jesuiten jedoch von Ferdinands II. Mutter, Maria von Bayern, hierzu beauftragt worden]. Als nunmehr jüngster Staatsrat der Wiener Regierung verließ er sich ganz auf den Rat seines ehemaligen Ajo, des Fürsten Salm. So opponierte er nach dem Tod Karls II. von Spanien gegen alle Kompromißvorschläge und plädierte für den Krieg gegen Frankreich. ... Zur selben Zeit bat er seinen Vater inständig ihn an die Front zu lassen. Dieser lehnte zunächst ab, erlaubte ihm aber dann doch, am Feldzug von 1702 teilzunehmen und mit der kaiserlichen Armee die von den Franzosen eroberte Festung Landau zu belagern. Als er nach dem Feldzug wieder in Wien eintraf, hielt ihn Leopold I. offensichtlich für reif genug, mehr politische Verantwortung zu übernehmen. So nahm er nicht nur an allen Sitzungen teil, sondern führte auch bei Abwesenheit seines Vaters den Vorsitz über den Ministerrat." (in: Charles W. Ingrao, Josef I. - Der vergessene Kaiser, ebenda, S. 24-25).
"... während der Beerdigung seines Vaters [Leopold I.], als der Jesuit Wiedemann ungeachtet der anwesenden holländischen und englischen Gesandten in seiner Trauerrede den Glaubenseifer des Verstorbenen pries, der es stets verstanden habe, den Protestantismus in seine Schranken zu weisen. Nur jesuitisch erzogene Fürsten, fügte er drohend hinzu, hätten Aussichten, erfolgreich und siegreich zu werden. Josef nannte die Eloge 'impertinent und unzumutbar' und verwies Wiedemann des Landes. Die 2000 Kopien der Rede, die Wiedemann zur Verteilung in den Erblanden hatte anfertigen lassen, wurden eingezogen. Zufrieden nahmen Josefs protestantische Verbündete diese Strafmaßnahmen zur Kenntnis, wie sehr aber freuten sie sich erst recht, als sie kurz darauf hören durften, die restlichen Jesuiten am Hof seien darauf aufmerksam gemacht worden, daß sie sich nicht mehr in politische Angelegenheiten einzumischen hätten. Fürst Salm konnte dem hannoveranischen Gesandten mitteilen: 'Wir sind nicht mehr so pfäffisch ... die Pfaffen gehören auf die Kanzel, vor den Altar und in den Beichtstuhl, aber nicht in das Cabinet.'" (in: Charles W. Ingrao, Josef I. - Der vergessene Kaiser, ebenda, S. 29).
"Mit 24 Jahren war er ein hübscher, gut gewachsener junger Mann mit blauen Augen, rötlich-blondem Haar und gesundem Teint. Anders als bei allen seinen österreichischen und spanischen Vorfahren traten bei ihm Kinn und Unterlippe nicht hervor. Aber nicht nur darin unterschied er sich von seinem Vater. Die Differenzen lagen vor allem im Temperament. So gelassen gleichmütig, ja phlegmatisch sein Vater auftrat, so schnell war Josef im Denken und Handeln. Seine Energie war selbst für einen Jugendlichen erstaunlich. Kein Wunder, daß eine so ungeduldige Natur überhaupt kein Verständnis für den trägen und würdevollen, schnellen Entschlüssen abholden Regierungsstil seines Vaters aufbringen konnte. Ebenso war dem Vater die springlebendige Energie und das hitzige Temperament des Sohnes ein ständiger Anlaß zur Sorge. Leopold, der sein Leben lang allem Martialischen gegenüber eine starke Abneigung empfunden hatte, konnte keinerlei Sympathie für die militärischen Interessen seines Sohnes aufbringen. Und ebenso mußte ihm mißfallen, wie wenig der Sohn während ihrer gemeinsamen Jagdpartien und auf Ausritten mit Freunden auf sein Leben achtete. Am meisten aber bekümmerten den Vater die zahlreichen Liebesaffären seines Sohnes. Während er selbst nämlich nahezu 40 Jahre lang ein mustergültiger Ehemann gewesen war - für einen barocken Monarchen ein bemerkenswerter Rekord -, waren Josefs galante Abenteuer mit verschiedenen adeligen Damen und Dienstmädchen am Hof ein beliebter Gesprächsstoff der Wiener. Die erotischen Eskapaden des Thronfolgers begannen bereits im Jahr 1693. Fürst Salm fühlte sich damals genötigt, dem Techtelmechtel des fünfzehnjährigen Josef mit vier jungen adeligen Damen ein Ende zu bereiten und sich bei der Kaiserin Eleonore [Magdalene] über die 'Verderbtheit' zu beklagen, die all diesen Liebeleien anhafte. Das Kaiserpaar versuchte, den Rat Salms zu befolgen, 'den jungen Prinzen mit loyalen Männern zu umgeben' und alle jene aus Josefs Gefolge zu entfernen, die allzu eifrig darum bemüht waren, die Wünsche des Thronfolgers in bezug auf Frauen, Jagden und anderen Abenteuern zu erfüllen. Alle diese Versuche jedoch, die darauf abzielten, den Lebensstil des Thronfolgers zu ändern und ihm die moralischen Imperative seiner Eltern aufzuzwingen, blieben im Grunde erfolglos. Das Ergebnis waren scharfe Worte und gespannte Beziehungen zwischen Eltern und Sohn." (in: Charles W. Ingrao: Josef I. - Der vergessene Kaiser, Graz, Wien, Köln 1982, S. 22-23). Joseph I. kam wohl eher nach seinem Großvater mütterlicherseits, Philipp Wilhelm (1615-1690) von Pfalz-Neuburg, dem Herzog von Jülich und Berg und Kurfürsten von der Pfalz.