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06/06/2021

Fünf Fragen an die Autorin des Buches „Die Frauen des Hauses Tudor“, Maike Vogt-Lüerssen, bezüglich der englischen Königin Elisabeth I. (1533-1603) (1)

1. Frage: Unter welchen Umständen wächst Elisabeth I. auf?

Es waren relativ schwierige Umstände, unter denen Elisabeth I. aufwuchs. Ihr Vater Heinrich VIII. ist bzw. war ein Psychopath und zwar einer von der unberechenbaren und gefährlichen Sorte. Und wie alle gefährlichen Psychopathen war er einerseits hochintelligent, höflich, charmant, leicht zum Scherzen aufgelegt und nahm seine Mitmenschen für sich ein, andererseits war er aber auch sehr kalt und sehr egozentrisch. In seinen Augen beging er nie einen Fehler. Wenn etwas nicht so ablief, wie er es geplant oder gewollt hatte, suchte er einen Schuldigen, der die Verantwortung zu übernehmen hatte (und sterben musste). Kein Untertan von ihm, selbst diejenigen, die sich als Freunde des Königs betrachteten, konnte dann vor ihm sicher sein. Er war ein Choleriker, der sehr leicht jähzornig wurde, und er besaß kein Mitgefühl oder Mitleid mit anderen und war daher in der Lage, sehr grausam selbst gegenüber seinen Liebsten vorzugehen. So ordnete er die Hinrichtungen seiner ehemaligen Freunde Sir Thomas More, Thomas Wolsey und Sir Thomas Cromwell und seiner großen Liebe Anna Boleyn und seiner fünften Gattin Katharina Howard, seiner „Rose ohne Dornen“, an, ohne die geringste Gewissensbisse zu empfinden. Er bedrohte selbst seine Tochter Maria Tudor (1516-1558) im Jahr 1534 mit der Hinrichtung, falls sie zwei seiner neuen Gesetze, das Sukzessionsgesetz und das Suprematsgesetz, nicht anerkennen würde.

Das Gute für Elisabeth I. war in dieser Situation, dass sie wie jedes Kind aus einer hochadligen Familie nicht bei ihren Eltern aufwuchs. Sie sah ihren unberechenbaren Vater also nicht so häufig. In der Regel wurden diese Kinder nämlich bereits im Alter von einem Monat in bestimmte Schlösser geschickt, in denen sie ihre Kindheit und Jugendzeit zu verbringen hatten. Es gibt selbstverständlich für jede Regel auch Ausnahmen: Elisabeths ältere Halbschwester Maria blieb das gesamte 1. Lebensjahr in der unmittelbaren Nähe ihre Mutter Katharina von Aragon. Ihre Wiege befand sich sogar im Schlafzimmer ihrer Mutter. Was in ihrem Fall zeigt, wie mächtig und selbstbewusst ihre Mutter, ebenfalls ein Psychopath, gegenüber ihrem Gatten Heinrich VIII. aufgetreten ist. Anna Boleyn, Elisabeths Mutter, konnte dies nicht durchsetzen. Elisabeth durfte nur drei Monate bei ihrer Mutter bleiben. Auch durfte Anna Boleyn ihr Kind nicht stillen, was sie sich so sehr gewünscht hatte. Heinrich VIII. verbot ihr dies.

Königskinder bzw. Kinder von hohem Adel besaßen von Geburt an statt der Mutter eine Gouvernante, die die Amme oder die Ammen und eine Kinderfrau beaufsichtigte, der wiederum ein Arzt und drei Dienerinnen bzw. Helferinnen unterstanden, z. B. eine, deren Aufgabe es war, die Wiege des Königskindes zu schaukeln. Neben dieser Gouvernante gab es dann noch eine Haushofmeisterin und mehrere Ehrendamen und Dienerinnen, die im Falle von Elisabeth I. wie alle Frauen in ihrem Haushalt von ihrer Mutter persönlich ausgesucht worden waren. Die Eltern sah man in der Regel um Ostern und die 12-tägige Ferienzeit um Weihnachten und Neujahr und wenn man zum elterlichen Schloss wegen eines besonderen Anlasses eingeladen wurde oder wenn die Eltern zwischendrin auf ihren Reisen durch das Land einen Abstecher bei ihren Kindern machten.

Wenn wir von der Kindheit von Elisabeth I. sprechen, dürfen wir zudem nicht vergessen, dass ihre Geburt für ihren Vater Heinrich VIII. eine große Enttäuschung war. Er hatte Anna Boleyn geheiratet, um endlich einen legitimen Sohn zu bekommen, der ihm als der nächste König von England nachfolgen konnte. Die Ärzte und Hofastrologen hatten ihm, nachdem ihm Anna Boleyn im Januar 1533 verkündet hatte, sie wäre schwanger, prophezeit, dass das Kind ein Junge sein würde, den er Heinrich oder Eduard nennen wollte. Als Elisabeth am 7. September 1533, an einem Sonntag, geboren wurde, war die Enttäuschung daher sehr groß. Denn das heißersehnte Kind war nur ein Mädchen. Ihr Vater ließ das Turnier und die Feuerwerke, die anlässlich ihrer Geburt geplant waren, absagen, und es sollten auch keine Freudenfeuer in London entzündet werden.

Nicht nur Heinrich VIII., auch seine Untertanen waren fest der Meinung, dass, falls der König keinen Sohn als seinen Nachfolger hinterlassen würde, alte Feindschaften wieder ausbrechen und das Reich erneut in Krieg und Elend gestürzt werden würde.

Selbstverständlich war die Hinrichtung ihrer Mutter, als Elisabeth noch nicht einmal drei Jahre alt war, ein traumatisches Erlebnis in ihrer Kindheit. Ihrer Mutter wurde Ehebruch mit mindestens fünf Männern vorgeworfen, unter anderem sogar mit ihrem eigenen Bruder George. Vier dieser fünf Männer standen dem König sehr nah und betrachteten sich selbst als seine Freunde und Vertrauten. Heinrich VIII. erklärte Elisabeth am 17. Mai 1536, zwei Tage vor der Hinrichtung ihrer Mutter, wie seine ältere Tochter Maria für unehelich. Während er jedoch im Falle Marias seine Vaterschaft niemals anzweifelte, behauptete er nun, dass sein einst sehr geliebter Kämmerer Henry Norris, einer dieser angeblichen fünf Liebhaber von Anna Boleyn, der richtige Vater der kleinen Elisabeth wäre. Aber diesen Unsinn glaubte er schließlich auch schon bald selbst nicht mehr. Elisabeth war nicht nur äußerlich ein Tudor durch und durch. Wie ihr Großvater väterlicherseits, König Heinrich VII., wies sie überdies einen Kehllappen (= eine Hautausstülpung unterhalb des Kinnes) auf. Nur die braunen Augen erinnerten an ihre Mutter.

In ihrer schweren Kindheit, wo alles so unsicher war, hatte Elisabeth das große Glück, von Menschen umgeben zu sein, die sie sehr liebten. Ihre Mutter, der das Recht versagt war, ihr Kind in ihrer Nähe zu haben, hatte, wie bereits erwähnt, dafür gesorgt, dass Elisabeth von Frauen und Männern ihrer persönlichen Wahl umgeben war. Am 26. April 1536, kurz vor ihrer Hinrichtung, bat Anna Boleyn ihren Kaplan Matthew Parker, über ihre Tochter Elisabeth zu wachen. Hatte Elisabeth von diesem etwas über ihre Mutter erfahren? Immerhin übersetzte sie das berühmte Werk von Marguerite d’Angoulême, Spiegel der sündigen Seele, das Lieblingswerk ihrer Mutter, vom Französischen ins Englische. Wer hatte ihr von der großen Liebe ihrer Mutter zu Marguerite d’Angoulême erzählt? Bis zu ihrer eigenen Thronbesteigung im Jahr 1559 wird es nur wenige Menschen gegeben haben, die den Mut besaßen, ihr von ihrer Mutter zu berichten. Denn Anna Boleyn war nach ihrer Hinrichtung am 19. Mai 1536 zur „Unperson“ erklärt worden. Alles, was an sie erinnern konnte wie z. B. ihre Porträts und ihre Briefe, musste vernichtet werden.

Wie alle Kinder, die unter einem Psychopathen aufwachsen, muss Elisabeth Wechselbäder zwischen Liebe und Hass unter ihrem Vater durchgemacht haben. Angeblich soll Heinrich VIII. Elisabeth zur Zeit seiner Ehe mit Jane Seymour sehr geliebt haben. Elisabeth war aber auch laut ihrer Zeitgenossen ein sehr pflegeleichtes und liebes Kind. Sie wurde als sehr anhänglich und sehr liebesbedürftig beschrieben. Und sie war allen Leuten, die ihr in ihrer schwierigen Kindheit und Jugendzeit Liebe erwiesen hatten, sehr dankbar. So blieb Blanche Parry, die ihre Wiege geschaukelt hatte, 57 Jahre in ihren Diensten. Elisabeth sagte diesbezüglich selbst: "Wir sind den Menschen, die uns großgezogen haben, mehr verpflichtet als unseren Eltern, denn unsere Eltern tun nur das, was für sie naturbedingt ist, das heißt, sie bringen uns in die Welt, aber diejenigen, die uns großziehen, sind diejenigen, die uns ein gutes Leben geben".

Das Jahr 1542, als Elisabeth acht Jahre alt war, muss für sie durch die Hinrichtung ihrer Stiefmutter Katharina Howard psychisch sehr belastend gewesen sein. Starb jene doch auf die gleiche Art und Weise wie ihre Mutter.

Während Katharina Howard kaum Interesse an ihrer Stieftochter Elisabeth hatte, betrachteten Anna von Kleve, die vierte Gattin von Heinrich VIII., und Katharina Parr, die sechste Gattin von Heinrich VIII., jene als ihre geliebte Tochter. Anna von Kleve war in Elisabeth geradezu vernarrt und lud sie häufig zu sich nach Richmond ein. Katharina Parr, die Kinder über alles liebte – Elisabeth wie ihr Halbbruder Eduard sahen in ihr „ihre geliebte Mutter“ –, sorgte auch dafür, dass Elisabeth wieder häufiger am königlichen Hof leben durfte und dass sie im Januar 1544 durch einen Parlamentsbeschluss wieder zur Thronfolge zugelassen und im Letzten Willen von Heinrich VIII. als eine seiner berechtigten Nachfolger genannt wurde. Sollten ihr Halbbruder Eduard VI. und ihre Halbschwester Maria ohne Nachkommen sterben, durfte sie ihnen als die nächste Königin von England folgen.

Katharina Parr war für Elisabeth die „Mutter“, die sie über alles liebte. Nach dem Tod von Heinrich VIII. am 28. Januar 1547 war jener zur großen Freude von beiden vom Kronrat das Sorgerecht über Elisabeth erteilt worden. Ihr Tod am 7. September 1548, an Elisabeths Geburtstag, an Kindbettfieber muss Letztere sehr getroffen haben.

Im Letzten Willen ihres Halbbruders Eduard VI. im Juli 1553 wurde Elisabeth dann erneut von der Thronfolge ausgeschlossen, obwohl er jene sehr gern als seine Nachfolgerin gesehen hätte. Aber Eduard VI. und seine wichtigsten Ratgeber wollten unbedingt Maria Tudor von der Thronfolge ausschließen, da sie mit Recht eine Rekatholisierung des englischen Königreiches unter ihr befürchteten. Und der einzige Grund, um sie von der Nachfolge auszuschließen, war ihre ehemalige angebliche Unehelichkeit, was jedoch auch für Elisabeth zutraf.

Die Regierungszeit unter ihrer Halbschwester Maria Tudor von 1553 bis 1558 war für Elisabeth eine sehr gefährliche Zeit. Denn jeder Aufstand und jede Rebellion gegen Maria Tudor zog Elisabeth automatisch ins Rampenlicht, ob sie es wollte oder nicht, ob sie beteiligt war oder nicht. Die spanischen und kaiserlichen Botschafter wollten daher ihren Tod. Denn sie befürchteten, dass, wenn Maria Tudor keine Kinder bekommen sollte, Elisabeth als ihre Nachfolgerin die Rekatholisierung stoppen würde. Deshalb ließen sie Sir Thomas Wyatt den Jüngeren so lange foltern, bis dieser gestand, Elisabeth sei an seinem Komplott gegen Maria Tudor im Januar/Februar 1554 beteiligt gewesen. Durch dieses unter Anwendung von Gewalt erpresste Geständnis wurde Elisabeth in den Tower überführt und musste mit ihrer eigenen Hinrichtung jederzeit rechnen. Vor seiner Hinrichtung schwor Sir Thomas Wyatt der Jüngere jedoch, dass Elisabeth nichts von seinem Komplott gewusst hätte und dass er durch die Folterung zu dieser falschen Aussage gezwungen worden wäre. Admiral William Howard, ein Halbbruder von Elisabeths Großmutter mütterlicherseits, Elizabeth Howard, sorgte letztendlich am 19. Mai 1554, am Tag als ihre Mutter vor 18 Jahren hingerichtet worden war, für ihre Freilassung. Elisabeth muss an diesem Tag, als die Soldaten zu ihr kamen, selbst mit ihrer Hinrichtung gerechnet haben. Nach ihrer Entlassung blieb sie unter strenger Überwachung und völliger Zurückgezogenheit.

Schließlich beschlossen Maria Tudor und ihre Ratgeber, Elisabeth durch eine Heirat mit einem Katholiken, Herzog Emanuel Philibert von Savoyen, aus England zu entfernen, was jedoch auch fehlschlug, denn jene weigerte sich strikt, sich verheiraten zu lassen, und gab selbst nach Drohungen nicht nach.

Maria Tudor wollte außerdem nicht ihre Halbschwester Elisabeth, sondern ihre Cousine Margarete Douglas als ihre Nachfolgerin sehen, was ihr aber von ihrem eigenen Gatten Philipp II. von Spanien ausgeredet wurde. Schließlich war ihr Wunsch durch den Letzten Willen ihres Vaters nicht durchzusetzen. Daraufhin verlangte Maria Tudor von ihrer Halbschwester, die sie als ihre Nachfolgerin zu akzeptieren hatte, dass diese ihre Schulden beglich und die katholische Religion im englischen Königreich aufrechterhielt.

Elisabeths nicht einfache Kindheit und Jugendzeit prägten sie sehr. Sie vertraute ihren Mitmenschen nicht leicht, aber sie hatte andererseits ein großes Gespür für begabte und loyale Menschen entwickelt. Die Ratsmänner, die sie zur Unterstützung ihrer Regierungstätigkeit ausgewählt hatte, wiesen allesamt hohe Qualitäten auf. Die schwierigen und gefährlichen Jahre als Kind und junge Frau machten sie zu einer Meisterin der Selbstbeherrschung und sorgten dafür, dass ihr Herz nie über ihren Verstand siegen sollte.

Nun auch als Buch
Buch Cover: Die Frauen des Hauses Tudor

Die Frauen des Hauses Tudor – Das Schicksal der weiblichen Mitglieder einer englischen Königsdynastie

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