Schauen Sie sich bitte das folgende berühmte Porträt des Kaisers Karl V. (1500-1558) (Abb. 1) an. Und bitte plappern Sie jetzt nicht die Behauptung der Kunsthistoriker nach, der Maler dieses Kunstwerkes wäre Tizian (um 1488/90-1576) gewesen.
Kunsthistoriker können wie wir Normalsterblichen keine Zeitreisen in die Vergangenheit unternehmen. Sie hatten und haben daher nie die Gelegenheit, den berühmten Malern der Renaissance über die Schulter zu gucken, um deren Malstil zu lernen. Was wir benötigen, um die Porträtgemälde der Vergangenheit den richtigen Malern zuzuordnen, sind daher zeitgenössische Quellen. Und von diesem berühmten Porträt des Kaisers Karl V. (Abb. 1) besitzen wir tatsächlich eine zeitgenössische Quelle. In den Aufzeichnungen von Jakob Seisenegger (1505-1567), dem Hofmaler des Kaisers Ferdinand I., lesen wir nämlich über eines seiner Werke Folgendes: "Item mer di Römisch kayserlich maiestat [Kaiser Karl V., der ältere Bruder des Kaisers Ferdinand I.], so ich zu Wononi abconterfet hab, wie dann die kuniglich maiestat den noch vor augen hat, der in ainen weyssen silberen stuckh mit zobl vnterfuetert vnd in ainem cordowanischen lidrem goller, dasselb vber die prusst herab zerschniten vnd mit gulden gewunden schnyren verprämbt, in ainem weissen zerschniten attlasen wamass, das auch mit gulden schnyren verprämbt, in weissen tuechen hosen vnd samaten zerschniten schuhen, ain rapir und gulden tolch mit seidenen tollen an der seiten, auf dem haubt ain schwarcz samaten piret mit ainem wissen federlein, neben ime ain grosser englischer wasserhundt, steund auf ainem marbalierten östrich vnd hinter vnd neben ime ain gruener taffanter vorhang." (in: Ernst Birk, Jakob Seisenegger – Kaiser Ferdinand I. Hofmaler 1531-1567 - Eine Studie zur österreichischen Kunstgeschichte aus bisher unbenützten Quellen, Wien 1864, S. 8).
Vergleichen Sie jetzt einmal die zeitgenössische Quelle mit dem obigen Bild und Sie kommen zur gleichen Schlussfolgerung wie der hervorragende Historiker Ernst Birk (oder Ernst von Birk) (1810-1890) im Jahr 1864: "Überraschender Weise trifft die von unserem Meister gegebene eingehende Schilderung Zug für Zug mit einem Gemälde der königlichen Gallerie zu Madrid zusammen, das aber Niemand geringerem als Tiziano Vecelli zugeschrieben wird." (in: Ernst Birk, Jakob Seisenegger – Kaiser Ferdinand I. Hofmaler 1531-1567 - Eine Studie zur österreichischen Kunstgeschichte aus bisher unbenützten Quellen, ebenda, S. 8). Es kann sich bei diesem Gemälde um keine Kopie von Tizian handeln, da Seisenegger stets angab, wenn er eine Kopie von einem Kollegen angefertigt hatte. Dieses berühmte Porträt von Kaiser Karl V. hat also Jakob Seisenegger und nicht Tizian erstellt! Seisenegger wünschte übrigens von Karl V. für die Erstellung dieses Porträts, das im Zeitraum vom 13. November 1532 bis 28. Februar 1533 in Bologna entstand, 50 rheinische Gulden. Im Jahr 1535 befand sich dieses Bildnis des Kaisers zudem laut der zeitgenössischen Quelle noch bei seinem Bruder Ferdinand I. in Wien.
Jetzt gibt es aber eine Kopie dieses Porträts von Kaiser Karl V. im Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 2). Ach, die Welt der Kunsthistoriker ist so herrlich einfach. Selbstverständlich muss das Porträt des Kaisers in der Abbildung 1 vom großartigen Tizian und das minderwertige Porträt in der Abbildung 2 von Jakob Seisenegger erstellt worden sein. Jedoch haben wir mit dieser Behauptung ein Problem. Es fehlt die zeitgenössische Quelle zur Bestätigung dieser Vermutung, dass Tizian ein Porträt des Kaisers Karl V. von einer Vorlage von Jakob Seisenegger kopiert hat.
Schauen Sie sich bitte einmal folgendes Porträt der vierjährigen Prinzessin Elisabeth (1526-1545) (Abb. 3), der ältesten Tochter des Kaisers Ferdinand I., an, das laut einer zeitgenössischen Quelle von Jakob Seisenegger erstellt wurde, und vergleichen Sie den Stil dieses Porträts mit den beiden Bildnissen des Kaisers (Abb. 1 und Abb. 2), dann können Sie sehen, dass die Abbildung 1 vom gleichen Maler stammte. Die Abbildung 2 stellt eine Kopie eines nicht so fähigen Künstlers dar. Vielleicht handelt es sich bei ihm um einen Schüler oder Assistenten von Jakob Seisenegger. Ist überhaupt eine gründliche Analyse dieses zweiten Porträts vorgenommen worden? Ist es überhaupt im 16. Jahrhundert erstellt worden? Der Wiener Historiker Ernst Birk wusste zumindest im Jahr 1864 nicht, dass überhaupt eine Kopie der Abbildung 1 existierte.
Im Gegensatz zu Tizian, der nie in Spanien war und der daher die Kaiserin Isabella von Portugal (1503-1539) nie persönlich kennengelernt hatte, war Jakob Seisenegger - wie ebenfalls quellenmäßig bestätigt werden kann - auf Wunsch des Kaisers Karl V. sogar zweimal in Spanien und porträtierte Isabella (Abb. 4).
Außerdem lesen wir in seinen Aufzeichnungen: "Item dy drey kayserlichem khinder in Hispanien abconterfet auf tuech, darfur thuet 93 gulden." (in: Ernst von Birk, Jakob Seisenegger – Kaiser Ferdinand I. Hofmaler 1531-1567 - Eine Studie zur österreichischen Kunstgeschichte aus bisher unbenützten Quellen, ebenda, S. 11). Er hatte also bei seinem wohl zweiten Aufenthalt in Spanien auch die drei legitimen Kinder des Kaisers Karl V., Philipp [II.] (1527-1598) (Abb. 5), Maria (1528-1603) und Johanna (1535-1573), porträtiert. Da Philipp II. ungefähr neun oder zehn Jahre alt war, als sein Bildnis entstand, wissen wir, dass Jakob Seisenegger um 1536/37 in Spanien war. Es gibt zudem noch Porträts der spanischen Prinzessin Maria im Alter von ungefähr acht oder neun Jahren und von der spanischen Prinzessin Johanna im Alter von ungefähr einem oder zwei Jahren, die hoffentlich über die letzten Jahrhunderte nicht verloren gegangen sind, sondern von den Kunsthistorikern nur falschen Personen zugeordnet wurden. Jakob Seisenegger verließ Spanien jedoch schon vor dem 19. Oktober 1537, denn andernfalls hätte er Bildnisse von vier kaiserlichen Kindern erstellen müssen, da an diesem Tag Karls V. Sohn Juan das Licht der Welt erblickte, der jedoch bereits fünf Monate später, am 20. März 1538, verstarb.