Auf allen Wikipedias der Welt – mit Ausnahme der deutschen, die keinen Artikel über Carlo’ de Medici (um 1428/30-1492) herausgegeben hat – finden Sie mittlerweile folgendes falsches Porträt bezüglich des Letzteren (Abb. 1).
Keine Ahnung, wie es zu diesem Fehler kommen konnte, denn bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wusste noch jeder, wie Carlo de’ Medici ausgesehen hatte (Abb. 2 und Abb. 3).
Wie alle illegitimen Kinder war Carlo de' Medici nicht erbberechtigt. Sein Vater Cosimo de’ Medici (1389-1464) (Abb. 4) konnte nach seinem Tod daher für diesen Sohn nicht mehr sorgen. Carlos Mutter war übrigens eine Cirkassierin, die Maddalena hieß und die sein Vater im Jahr 1427 als 21- oder 22-jährige Sklavin für ungefähr 60 Dukaten in Venedig erstanden hatte. Cosimo de’ Medici musste daher noch zu seinen Lebzeiten dafür sorgen, dass sein illegitimer Sohn nach seinem Tod nicht in finanzielle Nöte geriet. So versorgte er ihn – wie es in solchen Fällen in der Vergangenheit traditionell üblich war – mit geistlichen Ämtern, die genug Geld abwarfen, um ihm in der Zukunft ein sorgenfreies Leben zu gewähren. Carlo de’ Medici wurde somit zum Abt von San Salvatore di Vaiano (Prato) und zum Provost der Kathedrale von Prato geweiht.
Der beliebte Maler der Medici, Benozzo Gozzoli, hatte im Jahr 1459 die Gesichtszüge sämtlicher Familienmitglieder der Medici und die ihrer engsten Freunde, der Sforza, in einem herrlichen Fresko, das noch heute in Florenz im Palazzo Medici-Riccardi bewundert werden kann, für alle Zeiten festgehalten (Abb. 5). Nur das Porträt des mailändischen Herzogs Francesco Sforza ist Benozzo Gozzoli nicht gelungen. Vermutlich war er ihm in seinem Leben nie persönlich begegnet.
Carlo de’ Medici hatte zwar als illegitimes Kind von Cosimo de' Medici Geistlicher werden müssen, was jedoch nicht bedeutete, dass er wie ein Geistlicher zu leben hatte und sich vollkommen der Keuschheit hingeben musste. Wie so viele Geistliche seiner Zeit hatte er seine „Beischläferinnen“. Sein erstes und vielleicht sogar einziges Kind, seine illegitime Tochter Lucrezia, ist uns sogar bekannt. Sie war seine „Jugendsünde“ und wurde um 1445 geboren. Wir kennen sie durch ihre enge Verbindung mit den Sforza. Galeazzo Maria Sforza (1444-1476), der älteste legitime Sohn des mailändischen Herzogs Francesco Sforza, war ihr im Frühjahr 1459 bei einem seiner Besuche bei den Freunden seiner Eltern, den Medici, im Haus von Cosimo de' Medici begegnet. Die Medici besaßen einen ausgeprägten Familiensinn und kümmerten sich auch um ihre zahlreichen illegitimen Kinder, die bei ihnen zusammen mit den legitimen Kindern aufwuchsen. Für den jungen mailändischen Prinzen Galeazzo Maria Sforza war es, als er Lucrezia sah, die große Liebe auf den ersten Blick, und er wollte unbedingt mit ihr zusammenleben. Eine Heirat war wegen Lucrezias niederem Stande und ihrem schweren Geburtsmakel der Illegitimität ausgeschlossen. Aber die Kinder, die aus ihrer intimen Beziehung hervorgehen sollten, sollten zumindest nicht mit dem schweren Geburtsmakel der Illegitimität behaftet sein. Daher wurde Lucrezia mit einem treuen Gefolgsmann der Sforza, einem gewissen Giampietro Landriani, in einer sogenannten Scheinehe verheiratet. In die Geschichte ging Lucrezia daher als „Lucrezia Landriani“ ein (Abb. 6). Die Herren des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich mit der Geschichte der Sforza beschäftigten, hatten nicht das geringste Interesse, die Herkunft dieser Frau herauszubekommen. Lucrezia war schließlich nur eine Frau!
Lucrezia folgte also ihrem geliebten Prinzen nach Mailand und brachte in den nächsten Jahren vier Kinder auf die Welt: ihren Sohn Alessandro († 1523), geboren im Jahr 1460, ihren Sohn Carlo († 1483), den sie nach ihrem Vater nennen durfte, geboren im Jahr 1462, ihre berühmte Tochter Caterina († 1509) (Abb. 7), die Muse des florentinischen Malers Sandro Botticelli und der Mitarbeiter in seiner Werkstatt, geboren im Jahr 1463, und ihre Tochter Chiara († 1531), geboren im Jahr 1464 oder im Jahr 1465. Nach der Geburt von Chiara endete die Beziehung zwischen Lucrezia und Galeazzo Maria Sforza. Lucrezia wurde nun die Gattin ihres Scheingatten, dem sie noch folgende drei Kinder schenkte: Pietro, Stella und Bianca (1473-1496).
Carlo de’ Medici ließ sich noch durch einen seiner Maler stolz mit seinen beiden Enkelsöhnen Alessandro und Carlo verewigen (Abb. 8). Schließlich gab es zur Überlieferung von Fakten in der Renaissance nicht nur die Schrift, sondern auch das Bild, das übrigens eine sehr viel bedeutendere Rolle bei der Überlieferung von Familienmitteilungen spielte. Carlo de’ Medici starb im Jahr 1492, seine Tochter Lucrezia (Abb. 9), die seit 1487 mit ihrem Gatten Giampietro Landriani und ihren Kindern Pietro, Stella und Bianca ihr Zuhause bei ihrer ältesten Tochter Caterina, der Gräfin von Imola und Forlì, hatte, lebte – wie die überlieferten Darstellungen von ihr zeigen – mindestens noch im Jahr 1497. Danach verschwinden ihre Spuren.