Radegunde von Thüringen (um 525-587) - Die große Heilige der Merowinger
Radegunde lebte in einer sehr brutalen Epoche unserer Geschichte, in der die Starken und die Skrupellosen das Sagen hatten. Das einfache Volk des 5. und des 6. Jahrhunderts fügte sich bereitwillig dieser Herrschaft der gewalttätigen, grausamen und blutrünstigen germanischen Könige, die sie nicht nur vor den anderen kaltblütigen und kriegslüsternen Herrschern schützten, sondern die ihnen durch Raub- und Kriegszüge auch Siedlungsland, Ruhm, Ehre und Beute einbrachten. Am meisten fürchtete man die Merowinger, die vor keiner Bluttat zurückschreckten. Aber auch in Radegundes eigener Familie, dem mächtigen Haus der thüringischen Könige, ging es nicht immer friedlich zu.
Das Königreich ihrer thüringischen Vorfahren, in dem Radegunde um 525 das Licht der Welt erblickte, entstand im 4./5. Jahrhundert und dehnte sich im Norden bis zur Magdeburger Börde und dem östlichen Harzraum, im Osten bis über die Saale und im Westen bis zum Werratal aus. Das Zentrum der thüringischen Herrschaft lag im Thüringer Becken und im Unstruttal. Radegundes Großvater war der thüringische König Bessinus (oder Bisinus), dessen Gattin, die Langobardin Menia, ihm die drei Söhne Baderich, Herminafried (oder Herminefred) und Berthachar und die Tochter Radegunda (oder Raicunda), nach der unsere Radegunde genannt wurde, gebar. Letztere wurde mit dem Langobardenkönig Wacho verheiratet und starb als sehr junge Frau.
Radegundes Vater, Berthachar, war vermutlich der Jüngste der drei Söhne des Königs Bessinus. Sein älterer Bruder Herminafried war bereits in sehr jungen Jahren um 508 mit der hochgebildeten Nichte des wohl bedeutendsten Herrschers dieser Zeit, dem ostgotischen König Theoderich dem Großen, Amalaberga († nach 540), verheiratet worden, die zum Zeitpunkt der Heirat ebenfalls erst neun oder zehn Jahre alt war. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder, der Sohn Amalafridas und die Tochter Rhodelinde, hervor. Über die Mutter von Radegunde besitzen wir keine Informationen. Wir wissen nur, dass Radegunde noch einen Bruder hatte, der um 528/29 geboren worden sein muss.
Die Probleme im Königreich von Thüringen setzten mit dem Tod des Großvaters Bessinus ein, der, wie es bei den Germanen Tradition war, sein Königreich unter seinen drei Söhnen hatte aufteilen lassen, was zu Zwistigkeiten unter den Brüdern und schließlich zum vollständigen Machtverlust des thüringischen Königreiches führen sollte. Bei Gregor von Tours (538/39-594), der kein enger Freund von Radegunde gewesen ist und daher über die Geschehnisse in ihrer Kindheit nicht gut informiert war, lesen wir Folgendes: „Bei den Thüringern herrschten damals [um 529] drei Brüder: Baderich, Herminefred und Berthachar. Und Herminefred bezwang seinen Bruder Berthachar mit Gewalt und tötete ihn. Und dieser hinterließ bei seinem Tode eine Tochter Radegunde als Waise und auch Söhne …“ (in: Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichten, Erster Band: Buch 1-5, (Auf Grund der Übersetzung W. Giesebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner) Darmstadt 1986, Decem Libri Historiarum III, 4, S. 147).
Herminafrieds Ehrgeiz soll jedoch nach der Tötung seines Bruders Berthachar und der Einziehung von dessen Herrschaft noch nicht gestillt gewesen sein. Er wollte auch noch den Herrschaftsbereich seines Bruders Baderich seinem Königreich hinzufügen. Nur schien Baderich für ihn ein zu starker Gegner gewesen zu sein. Deshalb suchte er einen Verbündeten und fand ihn in dem merowingischen König von Reims, Theuderich I. (vor 484-533). Laut Gregor von Tours soll er Letzterem Folgendes versprochen haben: „Wenn du ihn [Baderich] tötest, sagte er, so wollen wir sein Reich gleichmäßig unter uns teilen.“ (in: Decem Libri Historiarum III, 4, S. 149). So vereinten Herminafried und Theuderich I. ihre Heere im Jahr 530 und besiegten schließlich Baderich, der durch das Schwert umkam. Herminafried war nach diesem Sieg allerdings nicht bereit, sich an die Abmachungen, die er mit Theuderich I. geschlossen hatte, ihm also die Hälfte des Königreiches seines Bruders Baderich zu übergeben, zu halten.
Über das, was nun folgte, sind wir durch Radegunde selbst sehr gut informiert, die zwei engen Freunden in ihrem Leben von dem Vorgefallenen berichtet hatte, dem spätrömischen Dichter Venantius Fortunatus (oder Venantius Honorius Clementianus Fortunatus) (um 540-607), der für sie als ihr persönlicher Sekretär tätig war und der sie überdies mit der Außenwelt verband, indem er sie über alles, was außerhalb ihres Klosters geschah, unterrichtete und gleichzeitig ihre Botschaften nach draußen trug, und der Nonne Baudonivia, die von Radegunde seit ihrer Geburt mit viel Liebe als ihre persönliche kleine Dienerin aufgezogen wurde und die sich stets in ihrer Nähe befand. Gregor von Tours, der Radegunde seit 573 ebenfalls persönlich kannte, zählte nicht zu ihren intimen Freunden und war, wie bereits erwähnt, nicht mit allen Details in ihrem Leben vertraut. Er ist dafür verantwortlich, dass wir heute überall lesen, Radegunde hätte ihren Gatten Chlothar I. um 550/556 verlassen, weil er zu diesem Zeitpunkt angeblich einen Bruder von ihr ermordet hätte, was völliger Unsinn ist. Bei den beiden zuverlässigen Zeitzeugen von Radegunde, Venantius Fortunatus und der Nonne Baudonivia, finden wir keine Erwähnung über einen Bruder, der zu diesem späten Zeitpunkt von Chlothar I. getötet wurde.
Als der merowingische König Theuderich I. zusammen mit seinem Sohn Theudebert I. (495/500-547) dem thüringischen König Herminafried im Sommer 531 den Krieg erklärte, war Radegunde ungefähr sechs Jahre alt. Theuderich I. hatte noch zusätzliche militärische Hilfe von seinem jüngsten Halbbruder Chlothar I. (um 501-561), dem merowingischen König von Soissons, und einigen Sachsen erhalten. Für Herminafried, der in dieser kriegerischen Auseinandersetzung keinen Bündnispartner finden konnte, sah es schlecht aus. Er verlor die entscheidende Schlacht gegen die Merowinger, konnte seine Familie und sich jedoch erst einmal in Sicherheit bringen, da Theuderich I. erstens von einem Aufstand in der Auvergne überrascht wurde, den er niederzuschlagen hatte, und da es zweitens zwischen den merowingischen Brüdern zu Unstimmigkeiten wegen der Beute „Thüringen“ gekommen war.
Radegunde war Augenzeuge dieses brutalen Krieges zwischen ihrer Familie und den Merowingern gewesen. Sie hatte die Tötung ihres kleinen Bruders, der nicht älter als drei Jahre gewesen sein kann, selbst miterlebt. Dieses traumatische Kindheitserlebnis, das sie nie vergessen konnte, sollte ihr zukünftiges Leben bestimmen. Viele Jahre später schilderte sie ihrem Freund Venantius Fortunatus, was sie bei der Einnahme der thüringischen Königsburg hatte mitansehen müssen. Jener verfasste aus ihren Erzählungen folgendes Klagegedicht, das Radegunde ihrem Cousin Amalafridas, dem Sohn ihres Onkels Herminafried, widmete: „Wie rasch stürzen stolze Reiche zu Boden! Lang sich hinziehende Dachfirste, die in Zeiten des Glücks da gestanden haben, liegen nun, durch die furchtbare Niederlage gebrochen, verbrannt am Boden. Die Halle, die vorher in königlichem Schmuck geprangt hatte, bedeckt jetzt an Stelle der gewölbten Decke, Trauer erregend, glühende Asche. Hochragende, schimmernde Dächer, die von rötlichem Metall erglänzten, hat graue Asche niedergedrückt. Fürsten werden gefangen, unter Feindesgewalt hinweggeführt, hoher Ruhm sinkt in elenden Staub hernieder. Die im Jugendalter prangende Schar kämpfender Jungmannen hat ihr Leben vollendet und liegt im schmutzigen Staube des Todes. Die dichtgedrängte Reihe der vornehmen Königsgefolgschaft hat weder Grab noch Totenehren: Das flammende rote Gold mit ihrem Haar noch überstrahlend, liegen sie mit bleichen Gesichtern auf dem Boden hingestreckt. Ach, welch Verhängnis! Unbeerdigt bedecken die Leichen das Feld, und so liegt das ganze Volk in einem einzigen Grab. Nicht allein Troja hat seinen Untergang zu beweinen; ein ebensolches Blutbad hatte auch das Thüringer Land zu erleiden. Hier wird eine würdige Frau [Radegunde] an den flatternden Haaren fortgerissen und kann von den heimischen Göttern keinen trauervollen Abschied nehmen, nicht durfte der Gefangene einen Kuß auf die Haustür drücken und die, welche noch schauen wollten, nicht das Antlitz nach der Behausung zurückwenden. Der nackte Fuß der Gattin trat in das Blut des erschlagenen Gatten [Radegundes Eltern], und die zärtliche Schwester [Radegunde] schritt vorüber an dem am Boden liegenden Bruder. Aus den Armen der Mutter gerissen, hing der Knabe an ihr nur noch mit seinem Blick, und niemand wusch unter Wehklagen seine Leiche. Weniger bedeutet es, durch ein schweres Geschick so das Leben des Sohnes zu verlieren, aber mütterliche Tränen verlor auch die Mutter unter Seufzern. Nicht kann ich, zumal als Angehörige eines fremden Volkes, das Wehklagen anderer erreichen und ganz aufgelöst im Tränensee schwimmen. Ein jeder hat sein eigenes Leid gehabt, ich allein aber das Leid aller: Der Schmerz des Reiches ist zugleich mein eigener Schmerz. Gut gemeint hat es das Geschick mit den Männern, welche der Feind getötet hat – ich allein habe alle überlebt und lebe, um sie zu beweinen.“ (in: Venantius Fortunatus, De excidio Thoringiae, in: MGH AA IV,1, hrsg. von Friedrich Leo, Berlin 1881, S. 271-275). Amalafridas war dem Schicksal seines kleinen Cousins entgangen, denn seine Mutter Amalaberga war mit ihm und seiner Schwester Rhodelinde im Jahr 531 zu ihrer Cousine, der ostgotischen Königin Amalasuntha († 535), und ihrem Bruder Theodahad († 536) nach Ravenna in Oberitalien geflohen.
Wer im thüringischen Volk dem Tod entgehen konnte – die meisten waffenfähigen Männer werden wohl gefallen sein –, wurde verschleppt, versklavt oder umgesiedelt. Dem blutigen Gemetzel, das die Merowinger in ihrer Familie und in ihrem Volk anrichteten, konnte auch Radegundes kleiner Bruder nicht entkommen. Als legitimer Spross des thüringischen Königshauses hatte er, wie die Merowinger es sahen, beseitigt werden müssen. Da schützte ihn auch nicht sein junges Alter. Chlothar I. hatte bereits im Jahr 524, als sein Bruder Chlodomer, der merowingische König von Orléans, in der blutigen Schlacht bei Vézeronce bei Vienne gefallen war, gezeigt, dass er nicht die geringste Gewissensbisse besaß, wenn es um die Tötung von kleinen Kindern ging. Da er unbedingt einen Teil des Königreiches seines verstorbenen Bruders Chlodomer seinem Herrschaftsbereich hinzufügen wollte, tötete er mit seiner eigenen Hand mittels eines Messers zwei von dessen Söhnen, seine eigenen Neffen, den zehnjährigen Theudoald und den siebenjährigen Gunthar. Nur sein dritter Neffe, der vierjährige Chlodoald († um 560), entging diesem Gemetzel, da er angeblich vor seinem Onkel in einem Kloster versteckt werden konnte. Er wurde schließlich zum Mönchen geweiht und ging letztendlich in die Geschichte als der Gründer des Klosters Saint-Cloud bei Paris und als Heiliger ein. Es könnte jedoch auch gewesen sein, dass er ein Patenkind von Chlothar I. war, und Letzterer es in diesem Fall nicht wagte, ihn zu töten. Aber Chlothar I. war in seiner Brutalität nicht einzigartig in dieser Zeitepoche. Geiserich († 477), der König der Vandalen, ließ nach dem Tod seines älteren Halbbruders Guntharich († 428) dessen Gattin ertränken und dessen Söhne ebenfalls töten.
Weder Venantius Fortunatus noch Baudonivia erwähnen, dass Radegundes Onkel Herminafried seinen Bruder Berthachar, also Radegundes Vater, ermordet hätte. Im Gegenteil, im Klagegedicht lesen wir, dass Berthachar 531 im Kampf gegen die Merowinger sein Leben verlor. Es ist sehr zu bezweifeln, dass Letzterer, wie Gregor von Tours behauptet, bereits um 529 von seinem Bruder Herminafried getötet worden war. Wenn Baderich militärisch so stark gewesen ist, dass Herminafried ihn im Jahr 530 nicht ohne die Unterstützung des merowingischen Königs Theuderich I. anzugreifen wagte, warum hatte Baderich im Jahr 529 nicht seinen Bruder Berthachar gegen Herminafried unterstützt, oder zumindest nach dessen Tötung die Hälfte von dessen Königreich eingefordert? Wir müssen, wenn wir den wichtigsten historischen Quellen bezüglich Radegunde folgen, in der Tat davon ausgehen, dass ihr Vater Berthachar im Jahr 531 von den Merowingern getötet wurde.
Bei Gregor von Tours lesen wir über diesen Krieg zwischen den fränkischen Merowingern und Thüringern zudem Folgendes: „Theuderich aber nahm seinen Bruder Chlothacar [Chlothar I.] und seinen Sohn Theudebert zur Hilfe mit sich und rückte ins Feld. Als die Franken nun heranzogen, stellten die Thüringer ihnen eine Falle. Auf dem Felde nämlich, wo gekämpft werden sollte, gruben sie Löcher; deren Öffnungen wurden mit dichtem Rasen bedeckt, so daß es eine ebene Fläche zu sein schien. In diese Löcher nun stürzten viele der fränkischen Reiter, als es zum Schlagen kam, und wurden schwer behindert; nachdem man aber die List gemerkt hatte, fing man an, achtsam zu sein. Als aber die Thüringer sahen, daß sie großen Verlust erlitten, wandten sie, da auch ihr König Herminefred schon die Flucht ergriffen hatte, den Rücken und kamen zur Unstrut. Dort wurden so viele Thüringer niedergemacht, daß das Bett des Flusses von der Masse der Leichname zugedämmt wurde, und die Franken über sie, wie über eine Brücke, auf das jenseitige Ufer zogen. Nach diesem Siege nahmen diese sofort das Land in Besitz und brachten es unter ihre Botmäßigkeit.“ (in: Decem Libri Historiarum III, 7, S. 153/155).
Auch diese letzte Aussage von Gregor von Tours: „Nach diesem Siege nahmen diese sofort das Land in Besitz und brachten es unter ihre Botmäßigkeit“ stimmt nicht. Es gibt zwar nur noch sehr wenige historische Quellen aus dieser Zeit – und daher wird auch alles, was Gregor von Tours behauptet, sogleich geglaubt –, aber die, die noch vorhanden sind, berichten, dass es nach dem Jahr 531 noch viele Aufstände im ehemaligen thüringischen Königreich gegeben hat, die durch fränkische Heere blutig niedergeschlagen werden mussten. Das thüringische Volk war nämlich nicht im Geringsten bereit, die Merowinger als ihre neuen Herren zu akzeptieren.
Zur Beute der Merowinger gehörte auch Radegunde, um die sich die beiden Halbbrüder Theuderich I. und Chlothar I. gestritten haben sollen. Schließlich entschied das Los, dass die thüringische Prinzessin Chlothar I. übergeben werden musste. Wer Radegunde besaß und sie daher heiraten konnte, war nämlich in der Lage, durch diese Eheschließung auch ein legitimes, dynastisches Recht auf die Herrschaft des thüringischen Königreiches anzumelden. Die Thüringer waren jedoch auch durch die Heirat ihrer Prinzessin Radegunde nicht bereit, deren Gatten als ihren neuen König anzuerkennen. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den Franken wurden daher, wie bereits erwähnt, fortgesetzt.
Ein ähnliches Schicksal wie Radegunde sollte die Prinzessin Rosamunde († um 572/573), die Tochter von Kunimund († 567), dem König der Gepiden, erleiden. Sie war im Jahr 567 die Beute des langobardischen Königs Alboin geworden, der sie kurze Zeit später ebenfalls heiratete. Sie war seine zweite Gattin. Die erste Gattin des langobardischen Königs, der ein Sohn von Radegundes Cousine Rhodelinde war, war übrigens Radegundes Stieftochter Chlodosinda. Eines Abends soll Alboin zu vorgerückter Stunde Rosamunde einen Trinkbecher mit Wein gereicht haben. Dieser Trinkbecher war aus der Hirnschale des von Alboin mit eigener Hand erschlagenen Vaters von Rosamunde erstellt worden. Sarkastisch meinte der langobardische König noch, auf diese Weise könne sie zusammen mit ihrem Vater trinken. Laut Gregor von Tours hätte Rosamunde seit dieser Zeit nur auf den Augenblick gewartet, ihren Vater rächen zu können. Mit der Hilfe eines gewissen Helmichis, einem Waffenträger des langobardischen Königs, gelang es ihr schließlich im Jahr 572, ihren Gatten zu vergiften. Wenig später kam sie selbst durch Gift ums Leben.
Radegunde, die im Gegensatz zu Rosamunde kein „Racheengel“ war, wurde nach ihrer Gefangennahme in die Region von Peronne gebracht, wo man sie nun unter ständiger Bewachung in Athies-sur-Somme in einem königlichen Schloss ihres Gatten aufzog und unterrichtete. Von ihrer Geburt her war sie Arianerin. Der Arianismus war jedoch seit der Konvertierung ihres bereits verstorbenen Schwiegervaters Chlodwig I. († 511) zum Katholizismus in den merowingischen Königreichen verboten. Radegunde fand in ihrem neuen katholischen Glauben großen Trost und sehr viel Hilfe, um die traumatischen Kindheitserlebnisse, besonders die Ermordung ihres kleinen Bruders, zu verarbeiten, und viel Kraft, denn sie entwickelte sich zu einer selbstbewussten und starken Frau. Aus der Arianerin wurde nach ihrer Übersiedlung nach Athies-sur-Somme somit in sehr kurzer Zeit eine tiefgläubige Katholikin, die laut Venantius Fortunatus schon bald den Wunsch äußerte, als Märtyrerin ihres neuen Glaubens sterben zu dürfen. Laut unseres Gewährsmannes soll sie überdies bereits in diesem jungen Alter gemäß den Geboten eines guten Christen kleine Kinder um sich herum versammelt haben, um ihre Gesichter und Hände zu waschen, um kleine Stühle für sie aufzustellen und um sie schließlich mit den Nahrungsmitteln, die bei den verschiedenen täglichen königlichen Mahlzeiten übrig geblieben waren, zu speisen.
Ihr Gatte, Chlothar I. († 561), der Merowingerkönig von Soissons, war der jüngste Sohn des berühmten merowingischen Königs Chlodwig I. (um 466-511) und seiner zweiten Gattin Chrodechilde von Burgund (um 480-544). Von all seinen Brüdern (siehe: Stammtafel der Merowinger 2) glich er seinem Vater charakterlich am meisten. Wie jener galt er als äußerst gewalttätig, rücksichtslos, heimtückisch und sehr ehrgeizig. Gregor von Tours beschrieb ihn sogar als besonders brutal und sehr wollüstig. Nach dem Tod seines Vaters am 27. November 511 wurde er im Alter von 10 Jahren der König von Soissons. Radegunde wird mit ihm gleich nach ihrer Ankunft in seiner Herrschaft im Jahr 531 verheiratet worden sein. Die richtige Hochzeit mit dem körperlichen Vollzug der Ehe fand aber erst im Jahr 538 statt, als sie als Alter von 12 Jahren aufwies oder bei ihr die Menstruation eintrat.
Radegunde war Chlothars fünfte Gattin. Da die katholische Kirche zu dieser Zeit noch nicht die Macht besaß, ihre persönliche Vorstellung bezüglich der Ehe durchzusetzen, hatten die merowingischen Könige, wenn sie es wünschten, nicht nur eine Gemahlin. Radegunde war daher nur eine der insgesamt sieben Ehefrauen von Chlothar I. Seine erste Gattin hieß Chunsina. Sie schenkte ihm bereits vor dem Jahr 518 seinen ersten Sohn Chramn († 560). Um 517 heiratete er Ingunde, die ihm fünf Söhne, 1. Gunthar, geboren um 518, gestorben als Kleinkind, 2. Childerich, geboren um 520, gestorben als Kleinkind, 3. Charibert († 567), geboren um 523, 4. Gunthram(n) († 592), geboren um 532, und 5. Sigibert I. († 575), geboren um 535/36, und eine Tochter, Chlodosinda (oder Chlodoswintha) († vor 568), gebar. Nach dem Tod seines Bruders Chlodomer im Jahr 524 heiratete Chlothar dessen Witwe, Guntheuca, die Radegundes Abneigung gegen Chlothar mit Sicherheit teilte, denn schließlich hatte Letzterer, wie bereits erwähnt, zwei ihrer drei Söhne im Jahr 524 eigenhändig ermordet. Die Kirche erhob bei dieser Eheschließung übrigens noch keinen Protest, obwohl es sich bei Guntheuca um eine Schwägerin des Merowingerkönigs handelte. Im 16. Jahrhundert führte dies zum Beispiel beim berühmten englischen König Heinrich VIII., der seine Schwägerin Katharina von Aragon, die Witwe seines älteren Bruders Arthur, geheiratet hatte, zur Abwendung Englands von der katholischen Kirche. Chlothar I. hatte seine Schwägerin Guntheuca vermutlich nur geheiratet, damit niemand durch eine Heirat mit ihr irgendwelche Ansprüche bezüglich des merowingischen Königreiches von Orléans, des Herrschaftsbereiches seines verstorbenen Bruders Chlodomer, stellen konnte.
Bei der vierten Gattin von Chlothar I. handelte es sich um eine jüngere Schwester seiner zweiten Gattin Ingunde, Arnegunde, die ihm seinen Sohn Chilperich I. († 584), geboren um 534, schenkte. Nach oder neben Radegunde heiratete Chlothar noch eine Frau, deren Namen wir nicht kennen. Handelte es sich bei ihr um die Mutter von Radegunde? Hatte er sie aus dem gleichen Grund wie seine Schwägerin Guntheuca geheiratet, damit niemand durch eine Heirat mit ihr irgendwelche Ansprüche auf das Königreich von Thüringen stellen konnte? Diese Frau schenkte ihm um 535 einen weiteren Sohn, Gundowald († 585), bei dem es sich um einen Halbbruder von Radegunde handeln könnte. Laut Gregor von Tours hätten ihm nämlich Radegunde und eine gewisse Ingotrude versichert, dass es sich bei ihm in der Tat um ein Kind von Chlothar I. handeln würde. Gundowalds Mutter und Chlothar I. müssen eine schwere Auseinandersetzung gehabt haben, die dazu führte, dass er seinen Sohn Gundowald nicht mehr als sein Kind akzeptierte. Jener lebte mehrere Jahre in Konstantinopel, wo sich der Rest der thüringischen Familie von Radegunde befand, und als Gundowald wieder ins Frankenreich zurückkam, fanden er und seine Söhne große Unterstützung bei der merowingischen Königin Brunichilde, der engen Freundin von Radegunde. Um 555 oder 556 heiratete Chlothar I. noch die Witwe seines Großneffen Theudowald († 555), Waldrada, die Tochter des Langobardenkönigs Wacho (siehe: Stammtafel der Merowinger 2 und Stammtafel der Merowinger 3). Die Kirche versuchte diese letzte Ehe von Chlothar I., wegen zu naher Verwandtschaft für ungültig zu erklären. Dabei handelte es sich bei Waldrada um die Witwe eines Großneffen und nicht wie bei Guntheuca um die Witwe eines Bruders. Sie war also verwandtschaftlich weiter von ihm entfernt. Aber Chlothar I. fügte sich in diesem Fall den Anordnungen der Kirche, da er aus politischen Gründen selbst von dieser ehelichen Bindung befreit werden wollte. Wenn es den hohen Herren gefiel, waren sie im gesamten Mittelalter bereit, der Kirche zu gehorchen. Waldrada wurde schließlich die Gattin des Herzogs Garivald von Bayern, dem sie fünf Kinder gebären sollte.
Da in der gesamten Geschichte die hohen Herren und Damen oft sehr eng miteinander verwandt waren und trotzdem heirateten, bot die katholische Kirche mit ihren Heiratsverboten wegen zu naher Verwandtschaft immer eine gute Gelegenheit, unliebsame oder unfruchtbare Gattinnen auf „humane“ Weise loszuwerden. Diese Methode stand den Arianern nicht zur Verfügung. Als zum Beispiel der Arianer Geiserich († 477), der bereits erwähnte König der Vandalen, seinen ältesten Sohn und Nachfolger Hunerich († 484), mit Eudocia, der Tochter des Kaisers Valentinian III., vermählen wollte, musste er erst noch die erste Ehe seines Sohnes auflösen. Er beschuldigte daher seine Schwiegertochter, die erste Gattin von Hunerich, bei der es sich um eine westgotische Prinzessin handelte, an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen zu haben und ließ ihr zur Strafe die Nase und die Ohren abschneiden und schickte sie schließlich mit diesen Verstümmlungen zu ihrem Vater Theoderid I. († 451), dem König der Westgoten, nach Toulouse zurück.
Im Jahr 533 starb Radegundes Onkel Herminafried, der vom merowingischen König Theuderich I. in Zülpich von der Stadtmauer gestoßen worden sein soll. Er war seiner Gattin und seinen Kindern im Jahr 531 nicht nach Oberitalien gefolgt. Bei Gregor von Tours lesen wir über dieses Ereignis Folgendes: „Als er [Theuderich I.] in seine Heimat zurückgekehrt war, ließ er Herminefred zu sich kommen, und gab ihm sein Wort zum Pfande, daß ihm nichts geschehen solle; er überhäufte ihn auch mit Ehrengeschenken. Da sie aber eines Tages auf der Mauer der Stadt Zülpich mit einander sprachen, erhielt Herminefred einen Stoß, ich weiß nicht von wem, stürzte von der Mauer zur Erde und gab seinen Geist auf. Wer ihn von dort herabwarf, wissen wir nicht; man behauptet aber, daß ganz gewiß eine Hinterlist Theuderichs dabei im Spiele gewesen sei.“ (in: Decem Libri Historiarum III, 8, S. 155).
Im Jahr 538 wollte Chlothar I. endlich seine offizielle Hochzeit mit Radegunde zelebrieren und den körperlichen Beischlaf vollziehen. Radegunde sah sich zu dieser Zeit jedoch bereits selbst als Braut von Jesus Christus und wollte auf keinen Fall die Gattin des Mörders ihrer Familie werden. Chlothar I. befahl ihr, sich von seinem Schloss in Athies-sur-Somme nach Vitry zu begeben, wo er sie empfangen wollte. Radegunde entschied sich indessen, seiner Anweisung nicht zu folgen und verschwand heimlich aus dem Schloss. Letztendlich konnte sie aber ihrer Vermählung und der „Hochzeitsnacht“ nicht entgehen. Die offizielle Heirat fand schließlich in Soissons statt. Radegunde war mit Sicherheit nicht die Braut, die Chlothar I. sich gewünscht hatte. Laut Venantius Fortunatus hätte sie sich nie etwas aus ausgewählter Kleidung und prächtigem Schmuck gemacht. Lieber beschenkte sie die Kirchen, Klöster und die hochangesehenen und im Rufe der Heiligkeit stehenden Eremiten mit diesen kostbaren Gewändern und Schmuckstücken.
Dabei soll Radegunde laut ihrer Zeitgenossen sehr schön und ihr Leben lang klein und zierlich gewesen sein. Aber sie verhielt sich zur großen Enttäuschung ihres Gatten wie eine Nonne, kleidete sich sehr bescheiden, ernährte sich nur vegetarisch, stellte mit ihren eigenen Händen die Kerzen für die Kirchen her, verteilte fortwährend Almosen, beschenkte die armen Leute, denen sie begegnete, mit Kleidungsstücken und Nahrungsmitteln, ließ ein Haus in Athies-sur-Somme erbauen, in dem bedürftige Frauen eine Wohn- und Schlafstätte fanden und um die sie sich persönlich kümmerte, indem sie sie mit ihren eigenen Händen wusch und ihre eiternden Wunden behandelte. Außerdem versuchte sie, Hinrichtungen, die ihr Gatte angeordnet hatte, zu verhindern.
Im Ehebett wird sie ihre körperlichen Pflichten erfüllt haben. Aber wir dürfen wohl davon ausgehen, dass Chlothar I. mit der Zeit seine Freude an den nächtlichen Besuchen seiner jungen Gattin verlor. Laut Venantius Fortunatus hätte Radegunde, wenn sie in der Nacht neben ihrem Gatten gelegen hätte, jenen um die Erlaubnis gebeten, das stille Örtchen aufzusuchen. Stattdessen hätte sie sich jedoch in die Kapelle begeben und sich dort auf den Boden geworfen und trotz der großen Kälte so lange gebetet, bis ihr Körper völlig starr geworden wäre. Erst dann hätte sie sich zurück zum Ehebett begeben. In der 40-tägigen Fastenzeit trug sie stets ein Büßerhemd unter ihren königlichen Gewändern und fastete außerdem in dieser Periode sehr streng.
Da Radegunde ihren Körper ständig durch ihre geringe Nahrungsaufnahme und durch ihre rigiden Gebetspraktiken wie zum Beispiel bei Nacht in der Kälte unter enormem Stress setzte, konnte sie vermutlich auch keine eigenen Kinder bekommen, obwohl sie Kindern gegenüber immer sehr zugeneigt war und sich sicherlich auch eigene gewünscht hatte. Aber es gab ein kleines Mädchen in ihrem Leben, Agnes († vor 487), das sie zu „ihrem Kind“ erklärte und für das sie wie eine Mutter sorgte und das stets an ihrer Seite zu finden war. Ihr Gatte benötigte sie nicht, um noch weiteren Nachwuchs zu erhalten. Seine anderen Gattinnen hatten ihm mindestens neun Kinder geschenkt (siehe: Stammtafel der Merowinger 3). Da sechs von seinen acht Söhnen das Erwachsenenalter erreichten und jeder von diesen ein Anrecht auf einen Teil seines Königreiches besaß, benötigte er in der Tat keine weiteren männlichen Kinder mehr. Bei dieser Gelegenheit möchte ich meinen Professor Hans K. Schulze zitieren: „Das Frankenreich galt gleichsam als Eigentum der Merowingersippe. Es wurde vererbt und geteilt, nicht wesentlich anders als ein großes Landgut. Jeder Königssohn konnte einen Reichsteil für sich fordern, und da die Merowingerkönige nichts von Geburtenkontrolle hielten und sich nach Lust und Laune, gelegentlich auch nach der Staatsräson mit Königstöchtern und Stallmägden verbanden, wimmelte es bald von Merowingersprossen. Eine Atomisierung des Reiches in unzählige Teile verhinderten die Merowinger selbst, indem sie sich bei passender Gelegenheit gegenseitig umbrachten.“ (in: Hans K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen – Merowinger und Karolinger, Berlin 1994, S. 79). Radegunde wurde also zur Produktion von weiteren Söhnen nicht benötigt.
Im Jahr 540 erfuhr Radegunde schließlich, dass ihre Tante Amalaberga und deren Kinder Amalafridas und Rhodelinde mit ihrer Verwandten, Matasuntha, und einigen führenden Ostgoten und einem Teil des ostgotischen Königsschatzes nach Konstantinopel, ihrer neuen Heimat, aufbrachen. Dort sollte Amalafridas mit Hilfe des oströmischen Kaisers Justinian I. zum kaiserlichen Feldherrn aufsteigen, während seine Schwester Rhodelinde den König der Langobarden, Audoin († 560), heiratete und Mutter des nächsten langobardischen Königs Alboin († 572) wurde.
Dann geschah irgendwann das große Ereignis im Leben von Radegunde, ihre Flucht von ihrem Gatten und der Beginn ihres religiösen Lebens. Laut der Nonne Baudonivia hätte Radegunde über viele Jahre Gott in ihren Gebeten angefleht, ihren Gatten auf Erden, den merowingischen König Chlothar I., endlich verlassen zu dürfen (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, Selected & Translated By Joan M. Petersen, Order of Saint Benedict, Collegeville, Minnesota 1996, p. 404). Der Anlass für die Flucht war nicht die Ermordung eines ihrer Brüder durch ihren Gatten, wie Gregor von Tours behauptet. Radegunde hatte jetzt nur endlich den Mut gefasst, ihren Lebensweg selbst zu bestimmen. Wann dies genau geschah, wissen wir nicht. Es muss in den Jahren 550 bis 556 erfolgt sein.
Zusammen mit ihrer Ersatz- bzw. Pflegetochter Agnes floh sie von ihrem Gatten und suchte Schutz und Asyl bei dem Bischof Medardus von Noyon († vor 561), von dem sie verlangte, dass er sie zur Nonne weihe. Jener weigerte sich jedoch, denn schließlich steht in 1 Korinther 7 Folgendes geschrieben: „Wovon ihr aber mir geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre. Aber um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eigen Weib, und eine jegliche habe ihren eigenen Mann. Der Mann leiste dem Weib die schuldige Freundschaft, desgleichen das Weib dem Manne. Das Weib ist ihres Leibes nicht mächtig, sondern der Mann. Desgleichen der Mann ist seines Leibes nicht mächtig, sondern das Weib. Entziehe sich nicht eins dem andern, es sei denn aus beider Bewilligung eine Zeitlang, daß ihr zum Fasten und Beten Muße habt; und kommt wiederum zusammen, auf daß euch der Satan nicht versuche um eurer Unkeuschheit willen.“ Radegunde war schließlich immer noch verheiratet. Von dieser ehelichen Bindung konnte der Bischof sie nicht befreien. Außerdem wies Radegunde zu diesem Zeitpunkt noch nicht das damals vorgeschriebene Alter auf, um zur Nonne geweiht werden zu können. Sie hatte mindestens 40 Jahre alt sein müssen.
Auch bei Gregor von Tours lesen wir über einen Fall, bei dem eine verheiratete Frau Nonne werden wollte. Eine gewisse Ingotrude, die für die Gründung des Klosters im Vorhofe der Kirche des heiligen Martin in Tours verantwortlich war, hatte ihrer Tochter Berthegunde gesagt, sie solle ihren Gatten verlassen, da sie sie zur Äbtissin ihres Klosters machen wolle. Berthegunde teilte ihrem Gatten, der sie nach Tours begleitet hatte, alsdann Folgendes mit: „Kehre nun heim und sorge für unsren Hausstand und unsere Kinder, denn ich werde mit dir nicht wieder zurückkehren. Denn der wird das Reich Gottes nicht sehen, der sich in der Ehe bindet.“ Ihr Gatte suchte daraufhin Gregor von Tours auf und erzählte diesem, was seine Frau zu ihm gesagt hätte. Was dann geschah, teilt Gregor von Tours uns persönlich mit: „Da ging ich zum Kloster und las ihnen die Vorschriften des Konzils von Nikäa vor, in denen es heißt: »Wenn eine Frau ihren Mann verläßt und eine Ehe verschmäht, in der sie glücklich gelebt hat, weil sie behauptet, wer sich in der Ehe bindet, könne nicht der himmlischen Herrlichkeit teilhaftig werden, so soll sie verflucht werden.« Als Berthegunde dies vernahm, geriet sie in Furcht, sie möchte von den Bischöfen des Herrn von der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen werden, verließ das Kloster und kehrte mit ihrem Manne heim.“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 33, S. 285/287).
Der Bischof Medardus von Noyon wird die gleiche Argumentation wie Gregor von Tours verwendet haben: „Wenn eine Frau durch eine Heirat an ihren Mann gebunden ist, dann gebe ihrem Wunsch nicht nach, sie von dieser Verbindung zu befreien.“ Die vielen brutalen Kriege des 6. Jahrhunderts führten dazu, dass nicht nur in Italien viele junge Menschen der Welt entsagten und in die Klöster eintraten. Radegunde hatte in ihrer eigenen Kindheit die Ermordung ihrer Familie miterlebt. Ihr Wunsch, in ein Kloster einzutreten, weg von dieser Welt, ist verständlich. Aber als verheiratete Frau besaß sie selbstverständlich nicht das Recht, dies ohne die ausdrückliche Erlaubnis ihres Gatten zu tun.
In der Antike und im Frühmittelalter war es noch relativ einfach, sich scheiden zu lassen. Erst durch die Zunahme der Macht und des Einflusses der Kirche wurde dies seit dem 8. und 9. Jahrhundert immer schwieriger. So lesen wir bezüglich der Scheidung im Frühmittelalter Folgendes: „Da zwischen N. N. und seiner Frau N. N. keine gottgemäße Liebe, sondern Zwietracht herrscht und sie darum nicht mehr zusammenleben können, sind beide zu dem Entschluss gekommen, sich vom ehelichen Zusammenleben trennen zu sollen – was sie dann auch getan haben. Deswegen haben sie wechselseitig diese beiden Briefe gleichen Inhalts schreiben und bestätigen lassen, dass jeder von ihnen die Freiheit hat, zum Dienst Gottes in ein Kloster einzutreten oder eine (neue) Ehebindung einzugehen und daraus keinerlei Anspruch an den anderen Teil besitzt. ...“ (in: Formulae Marculfi II, 30, MGH Formulae, S. 94, in: Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter, Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 1990, S. 196).
Wusste Medardus, der Bischof von Noyon, schon, dass er nach den Geboten der Kirche nicht das Recht besaß, Radegunde zur Nonne zu weihen, kam zusätzlich noch die Bedrohung vom König Chlothar I. hinzu, der eine Scheidung von Radegunde niemals erlaubt hätte – schließlich durfte er sich nur durch seine Heirat mit ihr rechtmäßig als „König von Thüringen“ betrachten. Chlothar I. schickte daher adlige Gefolgsleute zum Bischof, die ihm körperlich Gewalt antaten und ihm drohten, Radegunde unter keinen Umständen zur Nonne zu weihen, wenn ihm sein Leben lieb wäre. Als Radegunde von diesem Vorfall erfuhr und deshalb den völlig eingeschüchterten Bischof Medardus aufsuchte, schimpfte sie ihn mit folgenden Worten aus: „Wenn Du meine Weihung hinausschiebst und den Menschen [nämlich Chlothar I.] mehr fürchtest als Gott, dann wird die Seele eines Schafes [nämlich meine], oh Hirte, in Deiner Herde fehlen.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 386).
Radegunde, die durch ihren Glauben mittlerweile eine selbstbewusste und starke Frau geworden war und die wusste, was sie wollte, war so hartnäckig und unbeugsam, dass Medardus mit der Erlaubnis des Königs Chlothar I. schließlich nachgab und sie zur Diakonin (nicht zu verwechseln mit dem Begriff „Diakonisse“) weihte (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., pp. 365/367). Sie durfte sich also in der Mitte des 6. Jahrhunderts noch mit dem untersten Rang der weltlichen Geistlichkeit in der katholischen Kirche schmücken, obwohl ein Dekret im Zweiten Konzil von Orléans im Jahr 533 bereits die Weihung einer Frau zur Diakonin zum ersten Mal verboten hatte. Was wiederum heißt, dass Frauen vor 533 in der katholischen Kirche noch die geistliche Laufbahn einschlagen durften. Die katholische Kirche ließ also zumindest in der Spätantike und im Frühmittelalter noch weibliche weltliche Geistliche zu. Medardus ignorierte jedoch das Dekret im Zweiten Konzil von Orléans und begründete seine Weihung von Radegunde zur Diakonin mit einer Bestimmung des Konzils von Agde aus Jahr 506, die eine Weihung von verheirateten Frauen zum Diakonat erlaubt hatte, falls der Gatte hierzu seine Erlaubnis gegeben hatte und ein Zusammenleben der Eheleute nicht mehr zu erwarten war.
Radegunde hatte also nicht nur den Bischof von Noyon, sondern auch ihren Gatten Chlothar I. überzeugen müssen, dass sie felsenfest entschlossen war, nun ihren eigenen Weg in ihrem Leben zu gehen. Und ihr Gatte, der sie sehr gut kannte, gab in der Tat nach. Laut Venantius Fortunatus begab Radegunde sich nach ihrer Aussöhnung mit ihrem Gatten und ihrer Weihung zur Diakonin auf eine Pilgerreise nach Tours und nach Candes. Sie folgte also den Spuren des großen Heiligen Martin von Tours. Danach ließ sie sich mit ihrer Pflegetochter Agnes in einem Landhaus in der Nähe von Saix (in der Region von Poitou) nieder, das sie von ihrem königlichen Gatten erhalten hatte und das sie in eine Unterkunft für ihre Kranken- und Armenpflege umwandelte. Hier lebte sie drei bis neun Jahre sehr bescheiden.
Neben ihrer Schwiegermutter Chrodechilde († 544), die Radegunde in eigener Person kannte, war sie eines der wenigen Mitglieder der merowingischen Dynastie, die ihre religiösen Verpflichtungen als katholischer Christ ernst nahm. Als ihr Schwiegervater Chlodwig I. Weihnachten 498 aus politischen Gründen zum Katholizismus konvertierte, bedeutete dies noch lange nicht, dass die männlichen Mitglieder seiner Familie in der Tat anfingen, ihre Brutalität abzulegen und sich fortan „christlich“ zu verhalten, das heißt, Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu beweisen, die Armen, Witwen und Waisen zu beschützen, gegenüber Gefangenen und Fremden Mildtätigkeit zu zeigen, die katholische Kirche und ihre Geistlichen zu beschützen, den christlichen Glauben zu verteidigen und nach den Grundsätzen der christlichen Moral zu leben. Wenn man Gregor von Tours glauben darf, dann kam dem Idealbild eines wahren Christen nur noch Radegundes Stiefsohn Gunthram(n) (um 532-592), ein Sohn ihres Gatten aus seiner zweiten Ehe mit Ingunde, nahe, den er als einen „fast heiligmäßigen“ König beschrieb.
In ihrem neuen Zuhause ging Radegunde voll in ihren christlichen Diensten auf. Sie gab reichlich Almosen, und an jedem Donnerstag und Samstag wusch, kleidete, kämmte und versorgte sie die Armen in ihrer Umgebung mit Speisen. Laut Venantius Fortunatus scheute sie sich auch nicht, die zu waschen, die an Krätze und Läusen litten oder Eiterbeulen aufwiesen: „Zuweilen zog sie auch Würmer heraus ...“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 388). Sie kümmerte sich auch um die Leprakranken, die sie ebenfalls wusch, deren Wunden sie verband und die sie zuweilen auch selbst speiste, wenn jene ihre Finger oder Hände durch diese fürchterliche Erkrankung bereits verloren hatten, und die sie nie vergaß, beim Abschied reichlich zu beschenken. Auch die anderen erkrankten Mitmenschen fanden bei ihr Hilfe. Letztere beschenkte sie mit teuren, häufig importierten Früchten, betete für sie und/oder heilte sie. Bei Venantius Fortunatus lesen wir diesbezüglich: „... wenn jemand zu ihr kam, fröstelnd oder in einem schwachen Gesundheitszustand, und ihr erzählte, dass er in einem Traum gesehen hätte, dass er die Heilige [Radegunde] um seiner Gesundheit willen aufsuchen sollte, dann gab sie einem ihrer Diener eine Kerze in die Hand; mit Hilfe von dieser [die symbolisch betrachtet, die Krankheit darstellte] wurde durch ihr Abbrennen in der Nacht die Krankheit ‚getötet‛ und der kranke Mann erhielt seine Gesundheit zurück.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 389 and p. 418: “a candle burned in her name drove off every fever.”).
Der wichtigste Tag in der Woche war für Radegunde übrigens der Mittwoch, da an diesem Wochentag Jesus Christus geboren sein soll. Wenn Radegunde etwas Bedeutendes oder Wichtiges erledigen musste, dann suchte sie sich hierfür stets den Mittwoch aus. Wie es das Schicksal wollte, starb sie – mit Sicherheit zu ihrer großen Freude – an einem Mittwoch, dem 13. August 587.
Radegunde ernährte sich weiterhin nur vegetarisch. Außerhalb der Fastenzeit gehörten in ihren Speiseplan Roggen- und Gerstenbrot, Hülsenfrüchte und Gemüse. Sie aß nicht, wie es die wohlhabenden Menschen in ihrer Zeit taten, das so geschätzte Weizenbrot und auch keine Früchte, Eier, Fisch und Fleisch. Außerdem rührte sie keinen Alkohol, also kein Bier, keinen Met und keinen Wein, an und trank nur Wasser, das mit ein wenig Honig versehen wurde, und Birnensaft. Und sie nahm von diesen Flüssigkeiten auch nur so viel zu sich, bis ihr Durst gelöscht war. Nur am Sonntag wich sie von dieser strengen Diät ab, denn an diesem Tag lud sie Priester, die in ihrer Umgebung lebten, zu sich ein, um mit ihnen zusammen zu essen, zu reden und um sie ebenfalls reichlich zu beschenken.
In der gesamten Fastenzeit nahm sie hingegen außer an den Sonntagen keine Nahrung zu sich. Jene bestand an den Sonntagen laut Venantius Fortunatus überdies nur aus Wurzeln oder Stauden und den grünen Blättern der Malve. Radegunde schränkte auch ihre Wasseraufnahme in dieser Zeit so sehr ein, dass ihre Kehle völlig ausgetrocknet war und sie kaum sprechen konnte. In der Fastenzeit legte sie auch ihr Büßerhemd an und schlief auf dem Boden. Ihre Schlafstätte setzte sich nur aus Asche und einem sehr groben Tuch zusammen. Außerdem nahmen ihre Selbstkasteiungen in dieser Periode geradezu masochistische Züge an.
Während der Zeit, in der sie in ihrem Landhaus bei Saix lebte, wurde auf ihre Anordnung hin ein Männerkloster in Tours errichtet und mit dem Bau einer Kirche, die der Heiligen Jungfrau Maria geweiht worden war, begonnen (der Kirche Sainte-Marie-Hors-les-Murs). Im Zeitraum zwischen 552 und 557 (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 433) wurde der Grundstein für ihr berühmtes Frauenkloster zum Heiligen Kreuz (Sainte-Croix) gelegt, das schon bald nach ihrem Tod in Sainte-Radegonde umbenannt wurde und das sich an der Stadtmauer innerhalb Poitiers befand (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 428). Ihr Gatte und auch ihre Stiefsöhne unterstützten sie besonders beim letzteren Bauprojekt finanziell sehr großzügig. Chlothar I. soll laut Baudonivia dem Bischof Pientius und dem Herzog Astrapius sogar die Anweisung gegeben haben, den Bau des Frauenklosters seiner Gattin Radegunde mit all ihren Kräften zu fördern und schnell voranzutreiben.
Radegunde befürchtete jedoch stets, als sie in ihrem Landhaus bei Saix lebte, dass ihr Gatte es sich doch noch anders überlegen und sie zurück an seine Seite holen würde. Laut der Nonne Baudonivia soll dies auch in der Tat geschehen sein. Chlothar I. wollte seine Gattin wieder an seiner Seite haben. Aber Radegunde war nicht mehr bereit, in das weltliche Leben zurückzukehren. Ihrem Gatten antwortete sie, dass, wenn es sein Wunsch sei, dass sie zu ihm zurückkehre, und sie von ihm gezwungen würde, dies zu tun, dass sie sich selbst töten würde, denn sie sei bereits mit „dem König im Himmel vermählt.“ Hatte sie es tatsächlich gewagt, sich in ihrer Zeit im Landhaus ohne die Erlaubnis ihres Gatten zur Nonne weihen zu lassen? Nicht anders kann nämlich ihre Aussage, sie sei mit Jesus Christus vermählt, interpretiert werden. Chlothar I. gab seinen Plan, sie zurückzuholen, erst einmal auf.
In den Jahren, in denen Radegunde mit ihrer Pflegetochter Agnes in ihrem Landhaus lebte, hatte sich einiges in der Familie ihres Gatten ereignet. Im Jahr 555 war Chlothars erst ungefähr 22-jähriger Großneffe Theudowald, der Enkel seines Halbbruders Theuderich I., gestorben, und dessen Königreich von Reims war auf ihn übergegangen. Gregor von Tours schrieb über den Tod von Theudowald Folgendes: „Damals sah man auch, daß ein Stern in die Scheibe des Mondes in der fünften Nacht nach Neumond von entgegengesetzter Richtung eintrat. Ich glaube, daß diese Zeichen den Tod des Königs ankündigten. Denn er erkrankte, und konnte sich von den Hüften abwärts nicht mehr gerade richten. Und so allmählich hinsiechend, starb er im siebenten Jahre seines Reiches; sein Reich erhielt König Chlothachar [= Chlothar], der Vuldetrada [= Waldrada], die Gemahlin desselben, seinem Lager gesellte.“ (in: Decem Libri Historiarum IV, 9, S. 205).
In dem gleichen Jahr, 555, hatte Chlothar zudem auch wieder Thüringen mit Krieg überzogen. Bei Gregor von Tours lesen wir: „Als sich in diesem Jahre die Sachsen erhoben [sie waren dem merowingischen König gegenüber tributpflichtig], bot König Chlothachar sein Heer gegen sie auf und vernichtete sie zum größten Teil; er durchzog und verwüstete auch ganz Thüringen, deshalb, weil es den Sachsen Beistand gewährt hatte.“ (in: Decem Libri Historiarum IV, 10, S. 205). War es in diesem Jahr gewesen, dass Chlothar I. wegen seiner Probleme mit Thüringen Radegunde wieder an seiner Seite haben wollte?
Im Jahr 558 verlor Chlothar I. schließlich auch seinen letzten Bruder Childebert I. Zurück ließ dieser seine Gattin Ultrogotha (oder Vultrogotha), die als sehr fromm und als Wohltäterin der Armen und Kranken beschrieben wurde, und seine Zwillingstöchter Chrodoswintha und Chrodoberga. Chlothar übernahm sogleich das Königreich seines verstorbenen Bruders – das Königreich von Paris – und verbannte dessen Gattin und dessen Töchter aus Paris, nachdem er jenen auch noch ihren Königsschatz genommen hatte. Wo er sie hinschickte, wissen wir nicht. Erst nach 567 geben historische Quellen Auskunft über ihre derzeitige Bleibe. Ultrogotha und ihre beiden Töchter lebten in dieser Zeit in der von ihrem Gatten bzw. Vater gegründeten Abtei des Heiligen Vinzenz, dem späteren Kloster Saint-Germain-des-Prés, in der Childebert I. auch seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Im Jahr 558 hatte Chlothar I. mittlerweile alle seine Brüder, Neffen und selbst seinen Großneffen Theudowald überlebt. Sämtliche Herrschaften von den Verstorbenen waren auf ihn übergegangen, und wie sein Vater Chlodwig I. war er der alleinige Herrscher des Merowingerreiches geworden.
Um 559 oder 560 siedelte Radegunde mit ihrer Pflegetochter Agnes in ihr Frauenkloster in Poitiers über. Da sie ihrem Gatten keinen Anlass geben wollte, ihn zu erzürnen, fügte sie sich vollkommen seinen Anordnungen. Denn laut der Nonne Baudonivia befürchtete sie immer noch, dass ihr Gatte sie zu sich holen wollte. So nahm nicht sie, sondern eine von der Geistlichkeit gewählte und vermutlich von ihrem Gatten bestimmte Kandidatin namens Richildis (oder Richeldix), bei der es sich vielleicht um eine Tochter von Chlothar I. gehandelt hatte, die Position der Äbtissin in ihrem Kloster ein.
Schließlich traf doch noch ein, was sie so sehr befürchtet hatte: Chlothar I. erschien mit seinem Sohn Sigibert I. in Tours, um sich von dort nach Poitiers zu Radegunde zu begeben, die er zu sich zurückholen wollte. Letztere schien hierdurch völlig verzweifelt gewesen zu sein. Obwohl die Nonne Baudonivia, die Radegunde persönlich sehr gut kannte, über jene doch Folgendes schrieb: „Sie [Radegunde] brach niemals wegen irgendeines Unglückes vollkommen zusammen, noch war sie durch einen Erfolg jemals zu freudig erregt.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 404). Aber die Vorstellung, dass sie zu ihrem Gatten zurück musste und mit jenem wieder das Bett zu teilen hatte, brachte sie aus ihrem gewöhnlichen Gleichmut. Der mutige Bischof Germanus von Paris († 576) setzte sich schließlich für sie ein und konnte Chlothar I. davon überzeugen, Radegunde nicht zu diesem weltlichen Leben zu zwingen und sie ihren eigenen „heiligen“ Weg gehen zu lassen.
Im Jahr 560 zeigte Radegundes Gatte noch einmal allen seinen Zeitgenossen, was für ein grausamer und brutaler Mensch er war. Denn er ließ seinen ältesten Sohn Chramn, nachdem dieser sich mit den Bretonen gegen ihn verschworen hatte, in diesem Jahr zusammen mit dessen Gattin Chalda und dessen zwei Töchtern, also Chlothars eigenen Enkeltöchtern, in einer Hütte verbrennen. Bei Gregor von Tours lesen wir über das Vorgefallene Folgendes: „Als es aber zum Kampfe kam, wandte der Graf der Bretonen den Rücken und floh. Dann begann auch Chramn zu fliehen, da er Schiffe auf dem Meere bereit liegen hatte; aber während er noch sein Weib und seine Töchter retten wollte, wurde er vom Heere des Vaters überwältigt, gefangen und gebunden. Als dies König Chlothachar vernahm, befahl er, ihn mit seinem Weibe und seinen Töchtern zu verbrennen. Und sie wurden eingesperrt in die Hütte eines armen Mannes, Chramn auf eine Bank gelegt, mit einem Schweißtuch erdrosselt und dann die Hütte über ihren Häuptern angezündet; so kam Chramn mit seinem Weibe und seinen Töchtern um.“ (in: Decem Libri Historiarum IV, 20, S. 223/225).
Als Chlothar I. im Dezember 561 völlig überraschend starb, da er sich auf der Jagd im Forst von Cuise ein schweres Fieber zugezogen hatte, das zu seinem plötzlichen Tode führte, werden wohl wenige Menschen um ihn getrauert haben. Radegunde brauchte nun keine Angst mehr zu haben, von ihm aus dem Kloster entfernt zu werden. Besonders mit ihrem Stiefsohn Sigibert I., dem König von Reims, und dessen Gattin Brunichilde (um 555-613) verstand sie sich sehr gut. Gelegentlich bat sie jene auch um Unterstützung für ihr Kloster, speziell wenn es um die Beschaffung von Reliquien ging. Als eine ihrer Hauptaufgaben in ihrem Kloster betrachtete Radegunde es, zusammen mit ihren Mitschwestern für ihre Stiefsöhne, die sie laut der Nonne Baudonivia sehr geliebt haben soll, und zum Wohl für das Frankenreich und für den Frieden zu beten. Wenn sie erfuhr, dass unter den Brüdern wieder einmal Streit ausgebrochen war, schrieb sie sofort jedem von ihnen und bat sie, den Konflikt nicht mit Krieg oder mittels von Waffen auszutragen, sondern miteinander zu sprechen. Nur der Frieden unter ihnen würde das Frankenreich vor seinem Untergang schützen. Sie wandte sich in solchen Fällen dann auch an die wichtigsten politischen Ratgeber ihrer Stiefsöhne, die sie ebenfalls bat, den Konflikt durch weise Ratschläge zu beheben.
Über Radegundes Leben im Kloster sind wir durch ihren Freund Venantius Fortunatus und die Nonne Baudonivia sehr gut informiert. Venantius Fortunatus ließ sich im Jahr 565 in Poitiers nieder und durfte sich seit 567 als ein sehr enger Freund von Radegunde und ihrer Pflegetochter Agnes betrachten, die ihn beide, da sie wussten, dass er ein Feinschmecker war, sehr gern mit ausgesuchten Leckereien wie Kastanien, Pflaumen und Gebäck verwöhnten. Er bedankte sich hierfür, indem er für sie kleine und sehr persönliche Gedichte verfasste, die uns seine große Liebe und Verehrung, die er für die beiden Frauen empfand, offenbaren. Erst nach dem Tod von Radegunde und Agnes im Jahr 587 verließ Venantius Fortunatus Poitiers erneut und begab sich auf seine geliebten Reisen, um dann um 590 den größten Wunsch seiner Freundin Radegunde zu erfüllen und Geistlicher zu werden. Er stieg nämlich zum Bischof von Poitiers auf.
Als Radegunde im Jahr 559 oder 560 in ihr Frauenkloster eintrat, wurde sie gemäß ihrer königlichen Stellung behandelt und musste sich auch nicht von allen ihren materiellen Schätzen trennen. Ihr Kloster verfügte zudem über Thermen und Badehäuser, und wir wissen, dass Radegunde hier auch weiterhin ihrer lebenslangen Lieblingsbeschäftigung, den Brettspielen, nachging. Außerhalb der Fastenzeit ruhte sie zudem, wie wir von der Nonne Baudonivia erfahren, in der Nacht nicht auf dem Boden, sondern auf einer Liege. Aber über diese Seite des Lebens von Radegunde wollten uns ihre Freunde Venantius Fortunatus und die Nonne Baudonivia eigentlich nicht berichten. Sie wollten uns von der Heiligen erzählen. Daher erwähnen beide, dass Radegunde im Kloster wie schon in ihrem Landhaus bei Saix in strengster Askese lebte. Radegunde fastete sehr streng, und ihre Selbstkasteiungen waren weiterhin extrem. Ihre Freunde waren daher nicht zu unrecht sehr besorgt um sie. So ermahnte die Äbtissin Caesaria (oder Casaria) von Arles Radegunde, mit dem Fasten nicht zu übertreiben. Besonders rigoros war sie mit ihrem Fasten in der Fastenzeit. Außerhalb der Fastenzeit wich sie jedoch an bestimmten Tagen von ihrem strikten Leben ab, zum Beispiel an den Donnerstagen, Sonntagen, zur Osterzeit und anderen hohen kirchlichen Festtagen, von denen es im katholischen Kalender gerade im Mittelalter ja reichlich viele gab. An diesen Tagen gab sich Radegunde zwangloser und gönnte sich auch einmal etwas. Außerdem musste sie das strikte Fasten aus gesundheitlichen Gründen hin und wieder unterbrechen.
Ihre Selbstkasteiungen zur Fastenzeit waren jedoch rigoros und in der Tat masochistisch. So legte sie um ihren Hals und ihre Arme drei breite Eisenringe an und schnürte ihren gesamten Körper durch Ketten sehr eng ein. Überdies pflegte sie eine Messingplatte, die die Form eines Kreuzes aufwies, in einer Flamme zu erhitzen und dann direkt auf ihre Haut aufzudrücken, um sich überall mit diesem heiligen Zeichen zu versehen. Ihr Freund Venantius Fortunatus schrieb hierzu: „Das Fleisch war [danach] vollkommen geröstet.“ An einem dieser Fastentage soll Radegunde sogar ein Handwaschbecken mit glühender Holzkohle in ihre Klosterzelle bestellt haben, in das sie ein Metall bis zur Weißglut brachte und jenes dann ebenfalls auf ihre Haut aufdrückte. Wie Letztere danach ausgesehen haben mag, kann sich wohl jeder vorstellen. Außerdem sollen ihre Gliedmaßen bei dieser Prozedur knarrende Geräusche von sich gegeben haben. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 392).
Warum hatte sie dies getan?
Radegunde wollte unbedingt als Märtyrerin sterben. Aber der große Kampf zwischen den Christen und den Heiden, als also die Christen noch von den Heiden verfolgt und zuweilen zu Tode gemartert wurden, war im Prinzip seit 315 n. Chr. vorüber. Mittlerweile verfolgten die Christen die Andersgläubigen und ermordeten sie. Auch im Frühmittelalter war die wichtigste Botschaft von Jesus Christus, die Nächstenliebe, noch nicht verstanden worden. Wer als Märtyrer starb, war laut der katholischen Kirche in dieser Zeit Gott am Nächsten. Da keine Märtyrer mehr benötigt wurden, hatten Mönche, die in Syrien lebten, als Ersatz Foltermethoden entwickelt, die sie an sich selbst praktizierten, um dann doch noch als Märtyrer ihres Glaubens sterben zu können.
Von der Nonne Baudonivia erfahren wir außerdem, dass Radegunde sehr viel betete und zwar ganz besonders in der Nacht und dass sie keine Arbeit, die in ihrem Kloster anfiel, egal wie niedrig sie war, ablehnte. So fegte sie die Räume des Klosters sauber, trug das Brennholz hinein und zündete das Feuer an, um die Räume oder zumindest die Küche zu heizen, schleppte Eimer voll Wasser vom Brunnen zur Küche hinein, wusch das Gemüse, kochte für ihre Mitschwestern, wusch die schmutzigen Töpfe, Pfannen, Teller und Becher ab und säuberte die Küche und selbst die Aborte. Sie hatte auch eine Spindel in ihrer Zelle, mit der sie den Faden beim Spinnen drehte, falls sie nicht betete, predigte oder die Bibel und die Werke der Kirchenväter las. Schon als junge Königin von Soissons liebte sie die Gesellschaft von im Rufe der Heiligkeit stehenden Männern, besonders Bischöfen. Sehr gern ließ sie sich überdies von Eremiten beraten. Diese Gepflogenheit behielt sie auch inne, als sie in ihrem Frauenkloster lebte, denn dort empfing sie ebenfalls „heilige Männer“.
Laut der Nonne Baudonivia sprach Radegunde niemals schlecht über ihre Mitmenschen. Sie verleugnete, belog und verfluchte niemanden und war auch nicht bereit, jemandem zuzuhören, der über andere Böswilliges erzählen wollte. Jeder liebte und gehorchte ihr, selbst die Vögel und die anderen Tiere. Außerdem konnte sie Dämonen vertreiben, indem sie mit ihrer rechten Hand ein Kreuz schlug. Venantius Fortunatus und Baudonivia erzählen uns, dass Radegunde auch Visionen hatte. So sei ihr ein Jahr vor ihrem Tod, also um 586, Jesus Christus in eigener Person als Jüngling erschienen: „Ein Jahr vor ihrem Tod, sah sie in einer Vision einen Platz, der für sie reserviert war. Dort kam ein junger Mann zu ihr, der sehr reich gekleidet, sehr schön und, was sein Alter betraf, fast noch ein Kind war. Als er sie ansprach, berührte er sie sanft und redete mit ihr freundlich, sie aber in ihrem Bestreben, ihre Tugendhaftigkeit zu bewahren, wies seine schmeichelnden Annäherungsversuche zurück.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 420). Dieser Jüngling war, wie sich bei dem Gespräch letztendlich herausstellte, niemand anders als Jesus Christus persönlich, der ihr schließlich gestand, dass „sie sein erster Juwel in seinem Diadem sei.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 420).
Von dieser Vision soll sie nur ihren zwei treuen Freunden, also Venantius Fortunatus und Baudonivia, erzählt haben, mit der innigen Bitte, dass sie niemandem hierüber zu ihren Lebzeiten berichteten. Was sehr verständlich ist, denn ihre Zeitgenossen hätten Radegunde sicherlich den Vorwurf gemacht, dass es ihr sehr an Bescheidenheit fehlen würde, da sie sich in dieser Vision selbst als „den ersten Juwel im Diadem von Jesus Christus“ beschrieben hätte. Baudonivia berichtet auch noch über eine weitere Vision von Radegunde: „... sie [Radegunde] sah in ihrer Vision ein Schiff, das die Form eines Mannes aufwies. Leute saßen auf all seinen Gliedern; sie selbst befand sich auf seinem Knie. Er sagte zu ihr: ‚Im Augenblick sitzt Du [noch] auf meinem Knie, Du sollst aber einen Platz in meinem Herzen haben.‛...“ und „sie „fühlte, dass Christus in ihr wohnte.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., pp. 404-405).
Venantius Fortunatus erwähnt in seiner Vita über seine heilige Freundin auch zahlreiche Wundertaten, die jene bereits zu ihren Lebzeiten durch ihre persönliche Anwesenheit oder durch ihr Gebet bewirkt haben soll oder die nach ihrem Tod geschahen, weil Hilfesuchende ihren Namen anriefen. Laut ihm und der Nonne Baudonivia konnten Blinde durch die Anrufung ihres Namens wieder sehen, Hörgeschädigte wieder hören und Lahme wieder gehen. Seeleute, die bei orkanartigen Stürmen auf dem Meer Radegunde laut um Hilfe baten, wurden hierdurch vor ihrem sicheren Tod durch Ertrinken gerettet. Radegundes Freunde konnten auch einige Hilfesuchende bei ihren Namen nennen. So waren die blinde Tochter eines Adligen mit dem Namen Gislaadus, die Bella hieß, eine verheiratete Frau mit dem Namen Mammezo und ein hoher Herr mit dem Namen Leo durch die Anrufung von Radegunde in der Lage, wieder zu sehen; ein Seemann mit dem Namen Floreius, dessen Schiff bei einem starken Sturm unterging, blieb durch die Anrufung ihres Namens am Leben; und Tote, wie z. B. der neugeborene Sohn ihres Verwalters Anderedus und die kleine Schwester einer ihrer Nonnen, konnten durch sie wieder ins Leben zurückgeholt werden. Radegunde heilte laut ihrer Freunde auch unzählige Kranke und vom Teufel besessene Menschen wie eine gewisse Fraifledis oder eine gewisse Leubila. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., pp. 392-395, 410-411, 414).
Ihre lebenslange große Liebe für Kinder finden wir auch in ihrem Kloster. Sämtliche Mädchen und junge Frauen, die von ihren Vätern oder/und Müttern ihrem Kloster übergeben wurden, um sie zu Nonnen weihen zu lassen, betrachtete sie als ihre Töchter. So erzählt uns Baudonivia Folgendes: „Wenn sie uns [die Mädchen und jungen Frauen, die in ihrem Kloster lebten] anredete, dann sagte sie häufig gewöhnlich: ‚Ich habe Euch als meine Töchter ausgewählt. Ihr seid mein Lichtschein; ihr seid mein Leben; Ihr seid meine Erholung und mein gesamtes Lebensglück. Ich habe mit Euch neu angefangen. Benehmt Euch zusammen mit mir in diesem Leben so, dass wir zusammen glücklich sein können im Leben, das kommt. Lasst uns dem Herrn in vollem Glauben dienen und aus vollstem Herzen. … so dass wir zu ihm mit Selbstvertrauen sagen können: »Gewähre uns, Herr, was Du uns versprochen hast, denn wir haben getan, was Du uns befohlen hast.«‛“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 408).
Radegunde war so beliebt in ihrer neuen Heimat, dem Frankenreich, geworden, dass sehr viele junge Frauen nur wegen ihr in ihr Kloster in Poitiers eintreten wollten. Einige von diesen überlegten es sich nach einiger Zeit vermutlich wieder anders und beabsichtigten, das Kloster zu verlassen, was die hohen geistlichen Herren, die Bischöfe Eufronius, Prätextatus, Germanus, Felix, Domitianus, Victurius und Domnolus, unbedingt verhindern wollten. Ihr Schreiben vom vermutlich 17. November 567 ist in den Werken des Gregor von Tours zu finden: „An die sehr heilige Frau Radegunde, die Tochter der Kirche in Christo ... Wir freuen uns, ehrwürdige Tochter [Radegunde], daß das Beispiel seiner Liebe (= die Liebe des Heiligen Martin) zu den himmlischen Dingen durch die Gnade Gottes in euch wieder lebendig wird und Kraft gewinnt; denn obschon die Welt altert und sich zum Ende neigt, erwacht dennoch durch eures Herzens eifriges Streben der Glaube wieder zu neuer Blüte, und was durch die späte Kälte des Alters ermattet dahinstarb, soll durch die Glut eures liebenden Herzens aufs neue erwärmen. Da du fast aus derselben Gegend gekommen bist, woher, wie bekannt, der heilige Martinus zu uns kam, ist es nicht wunderbar, wenn du dem in deinen Werken nachstrebst, der, wie wir glauben, dein Wegweiser hierher war: wessen Fußstapfen du gefolgt bist, dessen Vorbild erreichst du so nach deinem frommen Wunsch; und du gewinnst dir dadurch den hochheiligen Mann eben so sehr zum Freunde und Gefährten, wie du an den Freuden der Welt teil zu haben verschmähest. Da der Glanz dieses Ruhms dir voranleuchtet, erfüllest du die Herzen derer, die dich hören, mit solchem himmlischen Lichte, daß aller Orten die Seelen der Jungfrauen zu dir gelockt und von dem Funken des göttlichen Feuers entzündet werden und voll heißen Verlangens, in der Liebe Christi aus dem Quell deines Busens getränkt zu werden, zu dir eilen, ihre Eltern verlassen und lieber dir folgen, die aus Gnade, nicht von Natur zu ihrer Mutter geworden ist. Und da wir solche Bestrebungen und Wünsche sehen, danken wir dafür der Gnade von oben, welche die Willen der Menschen mit ihrem Willen vereint; denn wir sind überzeugt, daß sie in ihren Armen alle bewahren will, die sie um dich sich sammeln läßt.
Da wir also in Erfahrung gebracht haben, daß durch Gottes Gnade manche Jungfrauen aus unsren Sprengeln voll heißen Verlangens zur Einrichtung eurer Regel herbeigeeilt sind, und da wir auch euer Gesuch, das wir mit Freuden empfingen, in Betracht gezogen haben, so bestimmen wir im Namen Christi, unsres Erlösers – obwohl schon an sich alle gleichermaßen, welche sich dort in der Liebe zum Herrn vereinigen, unverbrüchlich halten müssen, was sie einmal aus freiem Entschlusse gelobt haben, da ja die Treue, welche Christus unter Anrufung des Himmels gelobt ist, nicht verletzt werden darf und es kein leichtes Verbrechen ist, den Tempel Gottes, wovor er uns bewahren wolle, zu beflecken, damit er ihn nicht in seinem Zorne zerstöre –, so bestimmen wir dennoch ausdrücklich: wenn, wie gesagt, eine Jungfrau aus den unserer bischöflichen Obhut nach Gottes Bestimmung anvertrauten Orten sich eurem Kloster in der Stadt Poitiers beigesellen wird, so soll ihr nach den Bestimmungen des Herrn Cäsarius, Bischofs von Arles seligen Andenkens, niemals zustehen, dasselbe wieder zu verlassen, nachdem sie, wie die Regel es vorschreibt, aus freiem Antrieb eingetreten ist, damit nicht durch das schimpfliche Benehmen einer einzelnen in Unehre gerate, was bei allen hoch in Ehren ist. Und wenn deshalb eine, was Gott verhüten möge, durch unsinnige Verlockung verblendet, ihre Zucht, Ruhm und Krone zu solcher Schmach und Schande herabwürdigen sollte, daß sie, vom bösen Feinde verführt gleich wie Eva, die aus dem Paradies verstoßen wurde, auf irgendeine Weise die Schranken des Klosters oder vielmehr das Himmelreich verließe, um in den gemeinen Kot der Straßen gezogen und getreten zu werden, so soll sie von unserer Gemeinschaft ausgeschlossen sein und von der Wunde des schrecklichen Bannstrahls getroffen werden; sollte sie sich aber, nachdem sie Christus verlassen hat, vom Teufel verführt einem Manne vermählen, so soll nicht nur sie, die Entflohene, sondern auch der, der sich mit ihr verbunden hat (ein abscheulicher Ehebrecher und Tempelschänder eher als ein Ehemann!), sowie ferner auch jeder, der hierzu durch seinen Rat oder richtiger sein Gift beigetragen hat, von gleicher Strafe getroffen werden, wie sie ihr zuerkannt ist, durch des Himmels Gericht und nach unsrem Wunsche; bis sie sich trennen und sie sich durch gebührende Reue über ihr abscheuliches Verbrechen würdig macht, an dem Orte, den sie verlassen hat, wieder aufgenommen und mit ihm vereinigt zu werden. Wir fügen noch hinzu, daß die Schuldbefleckten gleiche Verdammnis von allen denen treffen soll, die uns als Bischöfe einst folgen werden; sollten diese dereinst, was wir nicht glauben, etwas von dem nachlassen wollen, was dieser unser Beschluß enthält, so mögen sie wissen, daß sie uns dafür vor dem Richterstuhle des ewigen Gottes werden Rechenschaft geben müssen; denn es ist eine allgemeine Heilsvorschrift: wenn etwas Christus gelobt ist, muß es unverbrüchlich gehalten werden. Diesen unsren Beschluß und Erlaß haben wir zu seiner Bekräftigung mit eigener Hand unterzeichnet, damit er von uns unter Christi Beistand ewiglich aufrechterhalten werde.“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 39, S. 299-303).
Während die jungen Frauen in der Umgebung von Radegunde also ihretwegen ins Kloster gehen wollten, entdeckten Radegundes Stiefsöhne ebenfalls den großen Nutzen dieser geistlichen Institution, durch die man unliebsame weibliche Mitglieder ihrer Familie kostengünstig loswerden konnte. Als nämlich im November oder Dezember 567 Radegundes Stiefsohn Charibert, der König von Paris, starb, hinterließ dieser noch zwei von seinen insgesamt vier Gattinnen und zwei Töchter. Seine erste Gattin Ingoberga († 589) hatte er bereits verstoßen, und seine vierte Gattin, die ehemalige Nonne Marcovefa, war bereits vor ihm gestorben. In letzterem Fall vergessen Sie, liebe Leser und Leserinnen, bitte nicht, was die sieben Bischöfe an Radegunde bezüglich einer Nonne und dem Mann schrieben, die heiraten sollten: „... sollte sie [die Nonne] sich aber, nachdem sie Christus verlassen hat, vom Teufel verführt einem Manne vermählen, so soll nicht nur sie, die Entflohene, sondern auch der, der sich mit ihr verbunden hat (ein abscheulicher Ehebrecher und Tempelschänder eher als ein Ehemann!), sowie ferner auch jeder, der hierzu durch seinen Rat oder richtiger sein Gift beigetragen hat, von gleicher Strafe getroffen werden.“ Selbstverständlich reichte die Macht der Bischöfe nicht, einen merowingischen König hiermit einzuschüchtern.
Charibert wurde von seiner zweiten Gattin Meroflede, einer Schwester seiner vierten Gattin Marcovefa, und von seiner dritten Gattin Theudochilde (oder Theudichilde) und seinen zwei Töchtern aus seiner Ehe mit Meroflede, Bertheflede und Chrodechilde, überlebt. Seine Tochter Bert(h)a aus seiner ersten Ehe war bereits mit dem angelsächsischen König Aethelbert von Kent verheiratet worden (siehe: Stammtafel der Merowinger 3). Seine ihn überlebenden Gattinnen Meroflede und Theudochilde und seine Töchter Bertheflede und Chrodechilde wurden von seinem Bruder Gunthram(n), dem König von Orléans, ins Kloster gesteckt. Im Gegensatz zu Radegunde verloren zumindest die Töchter seines verstorbenen Bruders beim Eintritt ins Klosters ihre sämtlichen materiellen Schätze. Außerdem wurde keine von diesen gefragt, ob sie ihr zukünftiges Leben wirklich in einem Kloster zu verbringen wünschten. Die Königin Theudochilde, die dritte Gattin des verstorbenen Königs Charibert, wollte aber absolut nicht in ein Kloster abgeschoben werden. Sie bot sich deshalb bei ihrem Schwager Gunthram(n) als Braut an, der zwar an ihren materiellen Schätzen interessiert war, sie jedoch nicht heiraten wollte. Gregor von Tours war in diesem Fall wieder gut informiert: „Darauf nahm er [Gunthram(n)] ihr [seiner Schwägerin Theudochilde] vieles, weniges aber ließ er ihr, und sandte sie in das Kloster zu Arles. Sie gewöhnte sich jedoch schwer daran, Fasten und Nachtwachen zu ertragen, und wandte sich daher durch geheime Boten an einen Goten; wenn er sie nach Spanien entführen und sich mit ihr vermählen wolle, so versprach sie ihm, mit ihren Schätzen das Kloster zu verlassen und ihm freudig zu folgen. Der sagte es ihr ohne Zaudern zu. Und als sie schon ihre Sachen zusammengepackt, die Bündel geschnürt hatte und aus dem Kloster zu entspringen gedachte, kam die Aufmerksamkeit der Äbtissin noch ihrer Absicht zuvor; ihr Anschlag wurde entdeckt und die Äbtissin ließ sie schwer geißeln und in den Kerker werfen, in dem sie bis zum Ende ihres zeitlichen Lebens blieb und nicht geringe Leiden zu ertragen hatte.“ (in: Decem Libri Historiarum IV, 26, S. 231).
Außer Chariberts Witwe Theudochilde wollten auch seine Töchter Bertheflede und Chrodechilde nicht in ein Kloster abgeschoben werden. Bertheflede gelang es schließlich im Jahr 589, ihr geistliches „Gefängnis“ zu verlassen. Ihr Cousin Childebert II. (um 570-596), der Sohn ihres Onkels Sigibert I., schenkte ihr außerdem ein Landgut, durch das sie ihren Lebensunterhalt finanzieren konnte. Ihr Vorgehen wurde selbstverständlich von Gregor von Tours missbilligt: „Als nun jene [Bertheflede] das Kloster verließ, begab sie sich in das Gebiet von Le Mans. Denn sie war der Schlemmerei und dem Schlafe sehr ergeben und kümmerte sich wenig um den Gottesdienst.“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 33, S. 285).
Chariberts Witwen und Töchter und die Witwe und die Töchter seines Onkels Childebert I., Ultrogotha, Chrodoswintha und Chrodoberga, waren überdies nicht die einzigen weiblichen Familienmitglieder, die in ein Kloster gesteckt wurden. Nach dem Tod seiner Brüder Theudebert († 575) und Merowech († 577) hatte Chlodovech im Jahr 580 einen Anschlag gegen seinen Vater Chilperich I. († 584), einem anderen Stiefsohn von Radegunde, geplant, der jedoch rechtzeitig entdeckt wurde. Chlodowech brachte sich nach seiner Verhaftung um. Aber seine Mutter, die erste Gattin von Chilperich I., Audovera, und seine Schwester Basina († nach 590), wurden als seine engen Familienangehörigen ebenfalls verhaftet (Sippenhaft). Während man seine Mutter tötete, steckte man seine Schwester Basina ins Kloster von Poitiers. Als Chilperich I. vier Jahre später, also im Jahr 584, anstatt seiner Tochter Rigunthe, ein Kind seiner geliebten Gattin Fredegunde, lieber seine Tochter Basina mit dem westgotischen Prinzen Rekkared verheiraten wollte, gab es Protest vonseiten Radegundes. Bei Gregor von Tours lesen wir Folgendes: „Aber sie [Basina] lehnte [das Heiratsangebot] ab, besonders weil die heilige Radegunde dawider war und sprach: ‚Es gebührt sich nicht, daß eine Christus geweihte Jungfrau wiederum zu der Lust der Welt zurückkehre.‛“ (in: Decem Libri Historiarum VI, 34, S. 61).
Radegundes große und auch lebenslange Leidenschaft war das Sammeln von Reliquien, die sie sehr verehrte. Sie war fest der Meinung, dass sie durch ihre Reliquien Verbindung mit den Heiligen aufnehmen konnte und zwar durch „beständige Meditation“. Der Nonne Baudonivia erzählte sie, dass sie auf diese Weise in der Lage war, mit den Heiligen zusammen „Kirchenlieder und Psalmen zu singen“. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 412). Radegunde wünschte, von allen Heiligen Reliquien zu besitzen. Als sie mit ihrer Pflegetochter in ihr Kloster trat, besaß sie bereits eine prächtige Sammlung von ihnen. Sie sandte aber weiterhin Boten in alle Länder, um neue zu erwerben. Nicht immer ging es hierbei mit rechten Dingen zu, wie am Beispiel der Reliquie des Heiligen Mammas (oder Mamas oder Mammes) gezeigt werden kann. Radegunde hatte einen gewissen Reoval mit dieser heiklen Angelegenheit beauftragt. Zu dieser Zeit war er noch ein Laie. Später wurde er Priester. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes dem Heiligen den kleinen Finger der rechten Hand für seine Herrin Radegunde abgebrochen. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 413).
Eine Reliquie, die sie jedoch über alle anderen unbedingt besitzen wollte, war ein Splitter vom Wahren bzw. Heiligen Kreuz, durch die sie direkt mit Jesus Christus in Kontakt zu treten wünschte. Sie hatte im Jahr 567 ihren Stiefsohn Sigibert I., in dessen Königreich sie lebte, gebeten, ihr die Erlaubnis zu erteilen, sich wegen dieser Reliquie an das oströmische Kaiserpaar, Justin II. († 578) und seine Gattin Sophia († 601/02), wenden zu dürfen. Sie erkannte ihren Stiefsohn stets als ihren Oberherrn an und tat nie etwas, ohne ihn zuvor zu informieren. Sigibert I. erlaubte es ihr. Radegunde hatte es im Prinzip der mächtigen oströmischen Kaiserin Sophia zu verdanken, dass sie in den Besitz dieser bedeutenden Reliquie gelangte. Denn auf deren Anweisung hin übersandte der oströmische Kaiser Justin II. diese Kostbarkeit an die merowingische Königin, die sich nun als Nonne in ihrem selbst gegründeten Kloster befand. Radegunde bedankte sich sogleich durch die Hilfe ihres Freundes Venantius Fortunatus mit zwei Hymnen und einem Gedicht beim oströmischen Kaiserpaar, in denen Letzteres als die wahrhaften Nachfolger des Kaisers Konstantin I. und seiner Mutter Helena gefeiert wurde.
Bei der Ankunft dieser kostbaren Reliquie im Jahr 568 begann allerdings der Ärger zwischen Radegunde und dem Bischof von Poitiers, einem gewissen Marowech, der diesen großen religiösen Schatz in seiner Kathedrale unterbringen wollte. Schließlich brachte eine solch wertvolle Reliquie durch die zahlreichen Pilger, die sie sehen wollten, sehr viel Geld ein. Radegunde betrachtete den Splitter des Wahren Kreuzes jedoch als ihren Privatbesitz und ein persönliches Geschenk vom oströmischen Kaiserpaar und war nicht bereit, dem Bischof von Poitiers gegenüber nachzugeben. Daher wurde diese Reliquie bei ihrer Ankunft im Frankenreich zuerst im von Radegunde gegründeten Männerkloster in Tours untergebracht. Aber im Mächtespiel Marowech und Radegunde siegte letztendlich die Letztere, denn sie war schließlich ein Mitglied der königlichen Familie. Radegunde wandte sich nämlich an ihren geliebten Stiefsohn Sigibert I., der einen seiner Gefolgsmänner, den Grafen Justin, sogleich zum Bischof Euphronius von Tours sandte, um diesem mitzuteilen, dass er die Reliquie in einer großen, prächtigen Zeremonie in eigener Person von Tours ins Nonnenkloster seiner königlichen Stiefmutter in Poitiers überführen sollte. Damit war jedoch bezüglich dieser wertvollen Reliquie noch nicht das letzte Wort gesprochen worden. Der Bischof von Poitiers, Marowech, gab seinen Kampf gegen Radegunde nicht auf, und beide wurden bittere Feinde. Radegunde plante sogar, den Papst zu bitten, ihr Kloster aus der Diözesangewalt des Bischofs von Poitiers zu befreien. Ob sie ihr Schreiben nie an den Papst abgesandt hatte, oder ob dieser ihrem Kloster dieses Recht nicht gewähren wollte, wissen wir nicht. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 427 [Fußnote 37]).
Aber Radegunde gelang es, wie wir von Gregor von Tours erfahren, ihr Kloster unter den Schutz ihres königlichen Stiefsohnes Sigibert I. zu stellen, was der Bischof Marowech von Poitiers als einen Affront gegen seine Diözesangewalt betrachten musste. So lesen wir bei Gregor von Tours, der seit 573 Bischof von Tours war und der über diesen Streit zwischen Radegunde und dem Bischof von Poitiers sehr gut informiert war, Folgendes: „Zur Zeit König Chlothars, als die heilige Radegunde dies Kloster errichtete, war sie mit allen ihren Nonnen immer den früheren Bischöfen der Stadt untertan und ergeben. Zu Sigiberts Zeit aber, als schon Marowech das Bistum der Stadt erlangt hatte, erbat sich die heilige Radegunde Empfehlungsbriefe von König Sigibert und entsandte aus Glaubenskraft und Frömmigkeit Geistliche nach dem Osten, daß sie von dort ein Stück Holz vom Kreuze des Herrn und Reliquien von den Aposteln und anderen Märtyrern holen sollten. Diese zogen hin und brachten diese Glaubenspfänder heim. Als sie ankamen, bat die Königin den Bischof [Marowech], sie mit den gebührenden Ehren und unter lautem Chorgesang in dem Kloster niederzulegen. Aber der lehnte ihre Bitte ab, bestieg sein Pferd und begab sich auf ein Landgut. Darauf sandte die Königin abermals an König Sigibert und bat ihn, daß er einem der Bischöfe gebieten möchte, diese Glaubenspfänder mit den gebührenden Ehren, wie sie es wünschte, in dem Kloster niederzulegen. Dies Geschäft wurde darauf dem heiligen Eufronius, dem Bischof der Stadt Tours, übertragen. Er begab sich daher mit seinen Geistlichen nach Poitiers und brachte unter lautem Psalmengesang, dem Glanze vieler Kerzen und Weihrauchduft die heiligen Reliquien in Abwesenheit des Bischofs der Stadt in das Kloster. Hernach suchte Radegunde wiederholt die Gunst ihres Bischofs [Marowech] wiederzugewinnen, aber umsonst; daher begab sie sich endlich notgedrungen mit der Äbtissin [ihrer Pflegetochter Agnes, welche nach dem Tod der ersten Äbtissin Richildis um 570 deren Nachfolgerin geworden war], welche sie eingesetzt hatte, nach der Stadt Arles. Dort empfingen sie die Regel des heiligen Cäsarius und der heiligen Casaria und stellten sich dann unter den Schutz des Königs ... Seitdem wuchs die Feindseligkeit mit dem Bischofe mit jedem Tage mehr, bis die Zeit des Heimgangs der heiligen Radegunde kam.“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 40, S. 303/305).
Im Jahr 573 sah Radegunde sich schließlich wegen ihrer fortwährenden Streitereien mit dem Bischof von Poitiers gezwungen, folgenden Brief an die Bischöfe, „die zu ihrer Zeit lebten“, zu schreiben, den wir ebenfalls in den Werken von Gregor von Tours finden und in dem sie bereits wie ihre männlichen geistlichen Kollegen mit dem Zorn von Gott und von Jesus Christus zu drohen verstand, falls man ihren Bitten und Anweisungen nicht nachkommen sollte: „... Da ich mich vorlängst von den Banden des weltlichen Lebens befreit, durch die Fürsorge und Eingebung der göttlichen Gnade unter Christi Leitung aus freiem Antriebe zu einem klösterlichen Leben gewandt und mit allem Eifer und ganzer Seele auch auf das Wohl andrer meine Gedanken gerichtet habe, so habe ich, damit meine guten Absichten auch für andere unter Gottes Beistand Nutzen brächten, ein Nonnenkloster in der Stadt Poitiers eingerichtet, das der durchlauchtigste Herr König Chlothar begründet und reich beschenkt hat; und nach seiner Begründung habe ich diesem Kloster durch eine Schenkung alle die Güter, welche mir der König in seiner Freigebigkeit geschenkt hat, verliehen; überdies habe ich der Gemeinschaft, welche ich dort unter Christi Beistand versammelt habe, die Regel gegeben, unter welcher einst die Heilige Casaria lebte und welche der Heilige Bischof Cäsarius von Arles in seiner Fürsorge aus den Anordnungen der heiligen Väter trefflich zusammengestellt hat. Unter Zustimmung der heiligen Bischöfe in dieser wie auch in den andren Städten, und nach der Wahl der Nonnen selbst habe ich meine Herrin und Schwester Agnes, die ich von Jugend an wie eine Tochter liebte und erzog, zur Äbtissin des Klosters eingesetzt und mich selbst nächst Gott ihrem Gebot nach der Regel unterworfen …
Da aber Zeit und Stunde des menschlichen Lebens ungewiß sind, weil die Welt sich zum Ende neigt, und da viele lieber sich als dem Herrn dienen wollen, übergebe ich noch bei meinen Lebzeiten aus Liebe zu Gott und voll Demut euch, hochverdiente apostolische Väter, in Christi Namen diese Bittschrift. Und da ich es persönlich nicht vermag, werfe ich mich statt dessen gleichsam in diesem Briefe euch zu Füßen und beschwöre euch also bei dem Vater, dem Sohne und dem heiligen Geiste und bei dem Schreckenstage des Gerichts, so gewiß euch dann, wenn ihr dereinst vorgeführet werdet, der Tyrann [= der Teufel] verschonen und der wahrhafte König die Krone verleihen möge; wenn etwa nach meinem Tode, wie ich nicht glauben will, irgend jemand, sei es der Bischof der Stadt [Poitiers] oder ein Beamter des Königs oder irgendeine andre Person, das Kloster durch böswilligen Rat oder richterlichen Spruch beunruhigen, oder die Regel verletzen sollte; oder wenn jemand eine andre Äbtissin als meine Schwester Agnes, welche die Weihe vom heiligen Germanus [dem Bischof von Paris] in Gegenwart seiner Amtsbrüder erhalten hat (einsetzen sollte); … oder wenn jemand, und sei es der Bischof der Stadt [von Poitiers] selbst, in dem Kloster oder auf den Gütern des Klosters durch ein neues Privilegium irgendwelche Macht beanspruchen sollte, welche die Bischöfe vor ihm oder andere Personen bei meinen Lebzeiten nicht gehabt haben; … oder wenn endlich von dem Besitz, den mir der durchlauchtigste Herr König Chlothar und die durchlauchtigsten Herren Könige, seine Söhne, geschenkt, und den ich nach seiner ausdrücklichen Erlaubnis dem Kloster zum Eigentum verschrieben und deren Bestätigung durch Urkunden der durchlauchtigsten Herren Könige Charibert, Gunthramn, Chilperich und Sigibert, unter eidlichem Gelöbnis und durch ihre eigene Namensunterschrift, ich erwirkt habe, oder auch wenn von dem Besitz, welchen andere für das Heil ihrer Seelen oder die Schwestern selbst von ihrem Eigentum an das Kloster geschenkt haben, ein König oder Bischof oder sonst ein Mächtiger oder etliche von den Schwestern etwas antasten oder als ihr Eigentum in tempelräuberischer Absicht beanspruchen sollten: so möge alle diese dann nächst Gottes Zorn auch euer heiliger Eifer und der eurer Nachfolger nach meiner Bitte um Christi willen dergestalt treffen, daß sie als Räuber und Plünderer der Armut von eurer Gnade ausgeschlossen seien und niemand aus Furcht vor eurem Widerstande etwas an unserer Regel zu ändern oder dem Kloster entwenden vermöge ...
Zugleich beschwöre ich auch die Könige selbst, welche Gott, um das Volk zu regieren, mich überleben lassen wird, bei dem Könige, dessen kein Ende sein wird und durch dessen Wink alle Reiche bestehen, der auch ihnen Leben und Regiment verliehen hat, daß sie das Kloster, das ich mit Erlaubnis und Unterstützung ihres königlichen Vaters und Großvaters erbaut, nach der Regel geordnet und ausgestattet habe, unter ihrem unmittelbaren Schutz und Schirm zusammen mit der Äbtissin Agnes leiten lassen … wenn Gott mich von dem Licht dieser Welt wird scheiden lassen, so werde mein Leichnam in der Kirche bestattet, die ich zur Ehre der heiligen Maria, der Mutter des Herrn, zu erbauen begonnen habe und wo auch schon viele meiner Schwestern in Frieden beigesetzt sind, mag sie dann vollendet oder noch unvollendet sein. Sollte aber jemand hierin etwas anders zu beschließen oder auszuführen suchen, so treffe ihn kraft des heiligen Kreuzes Christi und der heiligen Maria die Rache Gottes; ich aber möge dann durch eure Bemühungen dennoch in jener heiligen Kirche in der Gemeinschaft meiner Schwestern meine Ruhestätte erhalten. Endlich bitte ich euch unter heißen Tränen, daß dieses mein Gesuch, das ich mit eigner Hand unterschrieben habe, in den Archiven der ganzen Kirche aufbewahrt werde, damit, wenn es gegen irgendwelche Gottlosen not tun sollte, daß meine Schwester, die Äbtissin Agnes, und ihre Schar euren Schutz und Beistand in Anspruch nehmen müßten, euer Erbarmen und helfende Liebe mit der Sorglichkeit guter Hirten ihnen Beistand gewähre und sie dann nicht zu jammern brauchen, daß sie von mir verlassen seien, da ihnen Gott den Schutz eurer Gnade gewähren wird. … so auch von euch [Bischöfen] erfüllt werde, was ich unwürdige Magd euch, meinen Herren, den Vätern der Kirche und den Nachfolgern der Apostel, empfehle; bewahret ihr diesen meinen letzten Willen nach Gebühr, so werdet ihr teilhaben an dem Verdienst des Herrn, dessen apostolisches Gebot ihr erfüllet, und werdet würdiglich sein Vorbild erneuern.“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 42, S. 311-317).
14 Jahre später starb Radegunde am 13. August 587 in ihrem Frauenkloster, in dem mittlerweile ungefähr 200 Nonnen lebten: „Um ihre Totenbahre stand eine große Schar an Nonnen, um die 200, die durch ihre Predigten bekehrt worden waren und die nun ein heiliges Leben führten … sie kamen nicht nur von Senatorenfamilien, sondern waren zuweilen auch von königlicher Herkunft.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 429). Ihr Tod bot ihrem bitteren Feind, dem Bischof Marowech von Poitiers, endlich die Gelegenheit, sich an Radegunde zu rächen. Zu Lebzeiten war er ihr stets unterlegen gewesen. Die Beerdigungen wurden im gesamten Mittelalter in der Regel einen Tag nach dem Ableben einer Person vorgenommen. Im Falle von Radegunde war wegen der großen Sommerhitze sogar eine sehr schnelle Beerdigung erforderlich. Doch der Bischof von Poitiers, der sich zu dieser Zeit gerade auf dem Lande befand, gab eine fadenscheinige Begründung, dass er im Augenblick nicht gleich nach Poitiers aufbrechen könne. Vermutlich wollte er allen Anwesenden zeigen, dass es sich bei Radegunde durch den sich ausbreitenden Leichengestank nicht um eine Heilige, sondern nur um einen Menschen handeln könne. Sein Amtskollege, der Bischof von Tours, Gregor von Tours, machte sich hingegen sogleich, nachdem er von ihrem Tod benachrichtigt worden war, zum Nonnenkloster der Verstorbenen auf.
Die Leiche von Radegunde wurde gemäß der Tradition ihrer Zeit von ihren Mitschwestern gewaschen, mit aromatischen Essenzen eingerieben, mit einem Totengewand bekleidet und aufgebahrt. Als der Bischof von Poitiers auch nach drei Tagen noch nicht im Kloster erschienen war, erhielt Gregor von Tours von der Königin Brunichilde den Befehl, den Leichnam endlich zu seiner letzten Ruhestätte, der Kirche Sainte-Marie-Hors-les-Murs oder kurz: Sainte-Marie (heute: Sainte-Radegonde), zu überführen, in der schon einige Mitschwestern von Radegunde beerdigt worden waren und die sich außerhalb der Stadt Poitiers befand. Die Nonnen selbst konnten Radegunde nicht auf ihrer letzten Reise begleiten, da laut der Regel von Arles keine von ihnen das Kloster lebend verlassen durfte. In der Kirche Saint-Marie las Gregor von Tours die Totenmesse für Radegunde und segnete auch ihre Grabstätte. Er wollte es sich jedoch nicht mit dem leicht zum Zorne neigenden Bischof von Poitiers verderben und verließ danach die Kirche: „Wir [Gregor von Tours] überließen dem Bischof der Stadt [Marowech] die Ehre, nach der Feier der Messe das Grabmal zu schließen.“ (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 431).
Bereits zwei Jahre nach Radegundes Tod, im Jahr 589, kam es in ihrem Kloster in Poitiers zu dem berühmten Nonnenaufstand. Besonders ihre königlichen Mitschwestern, die beiden Töchter ihres im Jahr 567 verstorbenen Stiefsohnes Charibert, Bertheflede und Chrodechilde, und eine Tochter ihres im Jahr 584 ermordeten Stiefsohnes Chilperich I., Basina, wollten nicht mehr im Kloster leben. Ihnen folgten „vierzig und noch mehr Jungfrauen“. Laut Gregor von Tours beschwerte Chrodechilde sich, die die derzeitige in ihren Augen respektlose und korrupte Äbtissin Leubowera absetzen wollte, über Folgendes: „Ich gehe zu den Königen, meinen Verwandten, um ihnen die Schmach melden zu können, die wir erleiden; denn man erniedrigt uns hier, gleich als seien wir nicht Königstöchter, sondern von niedrigen Mägden geboren ...“ (in: Decem Libri Historiarum IX, 39, S. 297). Im Jahr 590 wurden die Königstöchter von einigen Bischöfen in der Hauptkirche verhört. Auf die Frage, „weshalb sie so unbesonnen und gegen ihre Regel die Pforten des Klosters erbrochen und sich entfernt hätten, wodurch die versammelte Gemeinschaft aufgelöst worden sei“, erhielten sie von Chrodechilde und Basina folgende Antwort: „... sie wollten sich nicht ferner der Gefahr des Hungers, der Blöße, ja selbst von Mißhandlungen aussetzen; auch fügten sie hinzu, es hätten verschiedene Männer ungebührlicherweise in ihren Badehäusern gebadet, die Äbtissin [Leubowera] selbst habe am Brett [mit Würfeln] gespielt, weltliche Personen hätten mit ihr geschmaust, ja es sei sogar eine Verlobung in dem Kloster gefeiert worden …“ (in: Decem Libri Historiarum X, 16, S. 367).
Die Äbtissin Leubowera durfte sich gegen die Vorwürfe von Chrodechilde und Basina rechtfertigen. Ihre Antwort finden wir ebenfalls bei Gregor von Tours: „Als wir darauf die Äbtissin befragten, was sie hierauf zu antworten habe, sagte sie, wenn sie sich über Hunger beklagten, so hätten sie im Verhältnis zu dem, was der Mangel dieser Zeit möglich machte, in Wahrheit niemals zu große Entbehrungen erduldet. Über die Kleidung sagte sie, wenn man die Schreine der Klägerinnen untersuche, werde man finden, daß sie mehr hätten, als nötig sei. Zu dem, was ihr wegen des Badehauses vorgeworfen war, gab sie an, dies sei während der großen Fasten erbaut worden, und wegen des starken Kalkgeruchs und damit das neue Gebäude den Nonnen, wenn sie badeten, nicht an der Gesundheit schade, habe die heilige Radegunde angeordnet, daß die Diener des Klosters es öffentlich benutzen sollten, bis sich der schädliche Geruch gänzlich verzogen habe. Deshalb sei es von den Dienern während der Fasten und bis zu Pfingsten gebraucht worden. ... In betreff des Brettspiels antwortete sie, wenn sie bei Lebzeiten der heiligen Radegunde gespielt habe, so treffe sie deshalb geringere Schuld, auch verböten weder die Regel noch die Kirchengesetze ausdrücklich das Spiel. … Was die Schmausereien beträfe, sagte sie, so habe sie keine neue Sitte im Kloster eingeführt, sondern es so gehalten, wie es zu Zeiten der heiligen Radegunde üblich gewesen, sie habe christlich gesinnten, gläubigen Personen geweihtes Brot verabreicht, daß sie selbst mit ihnen jemals geschmaust habe, könne man ihr nicht nachweisen.“ (in: Decem Libri Historiarum X, 16, S. 367).
Chrodechilde durfte wie ihre Schwester Bertheflede, von der wir bereits berichtet haben, das Kloster verlassen. Sie erhielt ebenfalls ein Landgut und musste sich wie Bertheflede auch nicht der Muntgewalt eines männlichen Verwandten unterstellen. Nur ihre Cousine Basina kehrte ins Kloster zurück.
Aber dieser Aufstand in ihrem Kloster schadete dem Ruf von Radegunde im einfachen Volk nicht. Sie wurde von diesem schon bald wie eine Heilige verehrt. Ihr Büßergewand und auch ihr Sargtuch bewirkten laut jenen bereits Wunder: „Wenn der Wächter des Grabmals dieser Dame [Radegunde] den Saum des Sargtuches in einen Kelch mit Wasser tauchte und eine Tasse von diesem einer Person, die an Fieber litt, reichte ...“, dann gesundete jener oder jene sofort. (in: Handmaids of the Lord – Holy Women in Late Antiquity & The Early Middle Ages, id., p. 424). Ihr Freund Venantius Fortunatus verfasste außerdem bereits kurz nach ihrem Tod zwischen 587 und 607 die erste Vita über sie. Wenige Jahre später erschien zwischen 609 und 614 die zweite „Vita Radegundis“, die von der Nonne Baudonivia aus dem Kloster von Radegunde geschrieben wurde und die sehr schnell weite Verbreitung im Frankenreich fand und Radegunde zu einer der beliebtesten Heiligen der nächsten Jahrhunderte werden ließ. Ihr Grab wurde schließlich von so vielen Pilgern und Pilgerinnen aufgesucht, dass es im 11. Jahrhundert notwendig wurde, die Kirche Sainte-Radegonde (ehemalig: Sainte-Marie-Hors-les-Murs), in der sie ruht, in einem größeren und prächtigeren Stil zu erneuern. Im Gegensatz zu ihrem Kloster, das in der Französischen Revolution zerstört wurde, kann ihre letzte Ruhestätte, die Kirche Sainte-Radegonde, auch heute noch besichtigt werden.
Trotz ihrer Beliebtheit geschah ihre Heiligsprechung erst im 9. Jahrhundert. Dabei war sie schon zu ihren Lebzeiten bei vielen Frauen, die wie sie ein „heiliges“ Leben führen wollten, als das große Vorbild betrachtet worden. Ihre „Vitae“ von Venantius Fortunatus und von der Nonne Baudonivia wurden im gesamten Mittelalter zur Abfassung der Biografien von unzähligen anderen heiligen Frauen immer wieder verwendet, auch wenn jene charakterlich und auch, was ihr Leben betraf, keine Gemeinsamkeit mit der großen merowingischen Heiligen aufwiesen. Übrigens besitzen wir von Radegunde noch einen Siegelring und einen Lesepult aus Holz, der mit den Symbolen der vier Evangelisten verziert ist.