"Die Hinrichtung war auf fünf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plätze. Sie brachten Stühle und Trittbänkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevölkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeiströmte, war der Cours schon so dicht besetzt, daß die Neuankömmlinge auf den terrassenförmig ansteigenden Gärten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mußten. Die Händler machten bereits gute Geschäfte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkönigin, mehr als zur größten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hänge hinauf standen sie. Sie hingen in den Bäumen, sie hockten auf den Mauern und Dächern, sie drängten sich zu zehnt, zu zwölft in den Fensteröffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschützt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz für die Tribüne und für das Schafott, das sich plötzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Bühne eines Puppentheaters." (in: Patrick Süskind, Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders, Zürich 1985, S. 296)
So wie der hervorragende deutsche Schriftsteller Patrick Süskind in seinem Roman "Das Parfum" die Stimmung und das Verhalten der aufgeregten, neugierigen und sensationslustigen Bevölkerung vor einer Hinrichtung beschrieben hat, so und nicht anders verhielten sich die Menschen im Mittelalter, wenn Verbrecher ihrer angeblich gerechten Strafe zugeführt wurden. Warum so hart bestraft wurde, welche Strafen auf welche Vergehen angewandt wurden, wie der Schuldige überführt und auf welchen Grundlagen die mittelalterliche Rechtsprechung basierte, möchten wir in diesem Kapitel erläutern.