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Alltagsgeschichte des Mittelalters

X. Die Medizin und das Gesundheitswesen

Wenn man im Mittelalter im Falle einer Krankheit einen Fachmann benötigte, standen in den Städten außer den "weisen" Frauen die Ärzte und Bader zur Verfügung. Der Arzt, der "Medicus", war schon auf Grund seines Universitätsstudiums eine angesehene Persönlichkeit und nahm in der Stadt eine bedeutende Position ein. Im Früh- und Hochmittelalter jedoch konnten sich nur Adlige und reiche Kaufleute den teuren Dienst eines Arztes leisten. Die übrige Bevölkerung mußte sich an die Bader oder Wundärzte wenden. Im Spätmittelalter änderte sich dies. In vielen Städten wurden die Ärzte nun vom Rat eingestellt und waren verpflichtet, alle Kranken zu betreuen. In den städtischen Medizinalordnungen wurde vom Medicus verlangt, daß seine Honorare bescheiden waren, daß er arme Menschen kostenlos behandelte, daß er die Arzneiherstellung den Apothekern überließ, daß er die Kranken in ihren Häusern aufsuchte, daß er ohne Erlaubnis des Rates keine Reise unternahm oder über Nacht außerhalb der Stadt blieb, daß er jede ungewöhnliche Krankheit sofort meldete, und daß er ein- bis zweimal im Jahr die Apotheken überprüfte, ob von den Medikamenten noch genügende Mengen vorhanden waren.

Trotz seiner angesehenen Stellung war die Meinung der Bevölkerung über den Arzt alles andere als günstig. Die eigenen Zeitgenossen bezeichneten die Ärzte gern als "verdammte Blutsauger" oder "Pfuscher". Francesco Petrarca († 1374) begann einen Brief an einen kranken theologischen Freund mit folgenden ängstlichen Worten: "Ich weiß dein Krankenbett von Ärzten belagert; dies ist für mich ein erheblicher Grund zur Furcht!" (in: Werner Leibbrand, ebenda, S. 154)

Und tatsächlich führte gerade die Anwesenheit des Arztes des öfteren zum Tode. Denn den meisten "Medizinmännern" fiel nichts Besseres ein, als die Patienten so lange zur Ader zu lassen, bis auch der letzte Blutstropfen aus den Erkrankten herausgepreßt worden war. Und Wunden behandelten sie mit Öl und Fett. Dabei wurde das Öl gekocht und so heiß wie nur möglich auf die Wunde gegossen in der Meinung, daß dadurch die Eiterbildung und die "üblen" Säfte vernichtet würden. Nicht selten litt aber gerade dann solch ein Patient an schweren Eiterbildungen. Es gab - Gott sei Dank - auch andere Ärzte, die die Wunden mit Wein reinigten und sie mit Verbänden versahen, um jede Form von Infektion aus der Luft zu verhindern. Denn bis zu Beginn des 19. Jhs. wurde die Lehre vertreten, daß die Krankheitsübertragung durch verdorbene Luft bewirkt würde.

Paul Diepgen berichtet von einer Nonne, die fünf Tage lang nicht urinieren konnte, weil ein Stein ihre Harnröhre verstopfte. Einem Arzt gelang es schließlich, sie von ihrer Qual zu befreien:
"So spießte er (der Arzt) dem Stein einen Haken ein, damit er nicht in die Blase zurückschlüpfen konnte, wenn er beklopft wurde; dann schob er die vorliegende Steinpartie etwas zurück und klopfte den Stein selbst mit einem ‚eisernen Instrument‘ in kleine Stücke. Hierauf zog er Haken und Instrument mit größter Vorsicht zurück, um ja Nebenverletzungen zu vermeiden, und es folgten Urin und gleichzeitig die Steinsplitter." (in: Paul Diepgen, Frau und Frauenheilkunde in der Kultur des Mittelalters, Stuttgart 1963, S. 187).

Ein großes Problem stellte die Betäubung des Patienten bei schweren Operationen z.B. bei Beinamputationen oder Eingriffen am Auge dar. Lange Zeit hindurch konnte man den Schmerz nur durch übermäßigen Alkoholkonsum zu lindern versuchen. Die Patienten selbst mußten an ihren Händen und Füßen mit straffen Riemen auf einem Stuhl gefesselt werden.

Damit sie von der Operation optisch nichts mitbekamen, wurden ihnen die Augen durch eine heruntergezogene Kappe verdeckt. Zum Trost las ihnen vielleicht noch jemand die Passion Christi vor. Meistens wurde der Patient erst durch einen Ohnmachtsanfall von den schrecklichen Schmerzen während der Operation erlöst.

In der Zeit der Kreuzzüge gelangten neue Narkosemethoden vom Orient ins Abendland. Nun wurden den Patienten vor dem operativen Eingriff Schwämme, die mit bestimmten Essenzen wie Opium, Bilsenkraut, Alraunwurzeln und/oder Mohn getränkt waren, über den Mund und die Nase gelegt. Als Operationswerkzeuge standen Sägen verschiedener Größen für Amputationen, Messer, Haken zum Halten von Wundrändern, Zangen, Scheren und Bohrer zur Verfügung. Zum Zunähen der Wunden wurden Hanf, Haare oder Tiersehnen verwendet.

Die Alternative zum Arzt war der Bader oder Wundarzt. Seit dem Spätmittelalter mußte er, um praktizieren zu können, eine dreijährige Lehrzeit mit einigen Wanderjahren vorweisen. Erst dann hatte er das Recht, unter ständiger ärztlicher Überwachung Patienten zu behandeln. Zu den Aufgaben des Baders gehörte, zur Ader zu lassen oder zu schröpfen, Kopfschmerzen zu behandeln, Verbände anzulegen, Salben und Arzneien auszugeben, kranke Zähne zu ziehen, Wunden und Geschwüre zu heilen, kleine chirurgische Tätigkeiten auszuüben, zu massieren, Haare und Bart zu scheren, im Badehaus das Bad bereitzustellen und die Badegäste zu betreuen.

Wenn weder Arzt noch Bader zur Verfügung standen, oder wer an ihren Fähigkeiten zweifelte, holte sich Rat von "weisen" Frauen oder braute seine Heilmittel selbst zusammen. So wurden Abkochungen oder Aufgüsse von Heilkräutern geschluckt oder zum Einreiben benutzt. Auch die Dämpfe bestimmter Wundermittel wurden eingeatmet oder zum Beräuchern der Wohnung verwendet. Gegen Krankheiten des Kopfes halfen angeblich Wermut, Akazie, Agrimonie oder Anagallis, gegen Krankheiten der Ohren Aconit, Osterluzei, Majoran oder Thymian, gegen Krankheiten der Zunge Sauerampfer, Zweiblatt, Natterwurz oder Efeu, und gegen Krankheiten der Augen Schlehenblüten, Maßliebchen, Anemone, Sonnentau, Rosen oder Euphrasta.

Hildegard von Bingen empfahl, die heilsamen Kräuter bei wachsendem Mond zu schneiden, weil sie dann vollsaftig wären und sich in diesem Zustand besser zur Bereitung von Salben, Latwergen und Arzneien verwenden ließen. Im 15. Jh. wurde zudem der Branntwein als das Allheilmittel, als das wahre Elixier des Lebens, betrachtet.

Aber bei den Heilungsversuchen spielte auch der Aberglauben eine große Rolle. Schlaganfall, Lähmung, Herzinfarkt, Tollwut – das waren für den mittelalterlichen Menschen alles unerklärliche und unheimliche Krankheiten, gegen die ihrer Meinung nach nur ungewöhnliche Heilmittel wie z.B. getrocknete Hirnschale, Rabeneier, Wolfsherzen und Wieselblut helfen konnten. Je widerlicher oder teurer eine Medizin war, um so mehr versprach sie zu helfen. So half gegen die Gicht angeblich nur ein Heilpflaster aus Ziegenmist, Rosmarin und Honig. Bei Wurmbefall empfahl man den Verzehr von Ruß aus dem Schornstein, von Asche verbrannter Schuhsohlen, von Harn, Rinderkot und von gedörrten "Garten- und Feldwürmern" – nach dem Motto, davor müßten sich auch die Würmer ekeln und deshalb den Wirtskörper fluchtartig verlassen!

Andere abergläubische Bräuche waren folgende:

  • "Es stärkt das schwache Auge gewaltig, wenn man die Augen einer Kröte entnimmt und sich selbst um den Hals hängt.
  • Ein Hundebiß heilt nur wieder vollkommen, wenn man von dem betreffenden Hund Haare auf die Wunde bindet.
  • Gegen Nasenbluten hilft, wenn man den kleinen Finger der linken Hand fest mit einem Faden zubindet. Wenn das nicht hilft, so nimm aus dem Gebeinhaus die Hirnschale eines Menschen, lege sie auf eine Röste, dörre sie und stoße sie zu Pulver. Trinke das Pulver im warmen Bier ...
  • Gegen Fallsucht ist günstig, um Johannis (den 24.6.) 13 lebendige Maulwürfe in einen unglasurten Topf zu legen, der zugedeckt und verkittet wird. Dann wird der Topf so lange auf glühende Kohlen gesetzt, bis die Maulwürfe gut durchgebrannt sind, worauf man sie zu Pulver zerstößt. Das nehme man eine halbe Messerspitze voll in Milch ...
  • Schneidet man einer ganz schwarzen Katze ein Loch ins Ohr und läßt die Tropfen von ihrem Blut auf ein Stück Brot laufen und ißt dieses, so hilft es gegen das Fieber ...
  • Hat jemand Flechten im Gesicht, besonders auf der Stirn, so muß eine fremde Person hinzutreten und ihm unvermutet ins Gesicht spucken.
  • Wer Gelbsucht erleidet, muß eine gelbe Rübe aushöhlen, seinen Harn hineinlassen und die Möhre alsdann in die Sonne hängen, bis sie trocknet, also wird er geheilt werden ...
  • Zahnschmerzen werden geheilt, wenn man im Beinhaus einen Zahn, den man einem Totenkopf ausbrechen muß, holt und in den Mund nimmt, aber um Mitternacht solls geschehen."

(in: Walter Hansen, Gütersloh 1977, S. 92-94)

Besonders beliebt war die Verwendung von "Mumien". Zur Herstellung dieser Kostbarkeiten benötigte man das Blut eines Gesunden. Dieses wurde in eine Eierschale gefüllt, die man mit einer Hausenblase fest verschloß und unter eine brütende Henne legte. Wenn die Henne ihr Gelege verließ, war das Innere im Ei zu einer fleischähnlichen Masse geworden. Jetzt mußte das ganze nur noch zusammen mit Brotteig in den Backofen geschoben werden. Denn mit dem ausgebackenen Brot waren auch die "Mumien" fertig und konnten gelagert oder gleich verspeist werden.

Anstatt sich dieser suspekten Heilmittel zu bedienen, konnte man jedoch auch die speziellen Heiligen anrufen. So hilft angeblich der Heilige Hugo, ein ehemaliger Bischof aus Grenoble († 1132) gegen Kopfweh, der Heilige Zeno († 371), wenn Kinder schlecht laufen und sprechen lernen, der Heilige Quirin, ein römischer Märtyrer († 130), bei Bein- und Fußleiden, Gicht, Lähmung, Eitergeschwüren, Pest, Ohrenschmerzen, Kropfleiden, Pocken, Fisteln, Knochenfraß, Hautausschlag, Augenleiden und Pferdekrankheiten. Für den Krebs ist der Heilige Beatus zuständig, vor Zahnschmerzen bewahrt die Heilige Medard († 560), von Blähungen befreit der Heilige Martin († 397), vor Zuckungen schützt der Heilige Claudius (7.Jh.), vor Bettnässen der Heilige Vitus († 304) und vor Durchfall der Heilige Germanus († 448).

Gegen die Pest konnten mehr als 20 Heilige angerufen werden und bei der Geburt standen mindestens 35 Heilige hilfsbereit zur Seite. Außerdem gab es noch die Reliquien der Heiligen, die in Notsituationen zu Hilfe genommen wurden. Dem Gürtel der Heiligen Elisabeth († 1231) wurden im Spätmittelalter besondere Kräfte für leichte und gefahrlose Geburten zugeschrieben. Und ihr Unterkleid sollte noch bis in die Mitte des 17. Jhs. hinein bei schweren Geburten helfen. Selbst die Protestanten, die den Heiligenkult abgeschafft hatten, zweifelten nicht an seine Wirkungskraft.

Aber im Gegensatz zu unserer Zeit wurden psychosomatische Krankheiten im Mittelalter sehr ernst genommen. So war man der Auffassung, daß Gefühle wie Zorn und besonders die Schwermut den Körper schwächten und den Krankheiten Tür und Tor öffneten.


Lesetipps:
  • Die Äbtissin Hildegard von Bingen – Ursachen und Behandlung der Krankheiten, übersetzt von Hugo Schulz. München 1933
  • Ariès, Philippe: Die Geschichte des Todes. München 1987 (3. Auflage)
  • Diepgen, Paul: Frau und Frauenheilkunde in der Kultur des Mittelalters. Stuttgart 1963
  • Holländer, Eugen: Die Medizin in der klassischen Malerei. Stuttgart 1903
  • Leibbrand, Werner: Heilkunde - Eine Problemgeschichte der Medizin. Freiburg, München 1954
  • Schelenz, Hermann: Frauen im Reiche Aeskulaps. Leipzig 1900
  • Toellner; Richard: Illustrierte Geschichte der Medizin, Bd. 2 und Bd. 3. Salzburg 1986
  • Vogt, Helmut: Das Bild des Kranken. München 1980 (2. Auflage) (sehr gut!)
  • Maike Vogt-Lüerssen: Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt. Nun auch als E-Book erhältlich (dieses Buch berichtet über den Ablauf von Geburten im Mittelalter).
  • Lesetipp von Stephan Forster: Andreas Libau (Libavius): Alchemie, Weinheim (Reprint) – (Dieses Buch wurde um 1500 als seriöses Lehrbuch verfaßt, enthält das gesamte alchimische Wissen seiner Zeit und den gutgemeinten Ansatz, dieses Wissen systematisch zu ordnen)

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Zeitreise 1 – Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
als Buch, Independently published, 264 Seiten, 93 SW-Bilder, € 12,54, ISBN 978-1-5497-8302-9
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